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Michal Ajvaz - Das Goldene Zeitalter

Übersetzung: Christa Rothmeier

5. KAPITEL. HEISSE MAUERN


Als ich mich der Insel näherte und vom Deck des Schiffes die geraden breiten Straßen und die geräumigen Paläste der unteren Stadt betrachtete, zweifelte ich nicht, dies müsste die Hauptstadt sein. Als ich mich dann durch diese Straßen bewegte und sah, dass sie mit Sand zugeweht, die Paläste innen leer waren, in den Patios Gestrüpp wuchs und Kletterpflanzen sich auf den Fassaden rankten, glaubte ich wiederum, ich befände mich in einer menschenleeren toten Stadt. Später erfuhr ich, die untere Stadt wäre tatsächlich die Residenz des Königs und somit die Metropole der Insel, doch verlieh dieses Privileg infolge des ungewöhnlichen politischen Systems dem Leben der Stadt einen eher noch traumartigeren Anschein und ließ ihre Gassen noch leerer wirken, die Anwesenheit des Königs, dieser verschwindenen Gestalt, vertiefte die Öde der unteren Stadt. Ich erkannte auch, dass die Stadt nicht ganz unbewohnt war, wie es mir bei meinem ersten Besuch geschienen hatte, allerdings waren nur einige in der Stadt verstreute Häuser bewohnt, und die Bewohner hielten sich nur vorübergehend hier auf, des Handels wegen, der Nähe des Meeres wegen oder aus dem Bedürfnis nach Einsamkeit.
Niemand hatte einen ständigen Wohnsitz in der unteren Stadt – fast alle Häuser waren hier in jeder Epoche leergestanden, und man brauchte sich nur eines auszusuchen und sich darin niederzulassen. Hätte sich jemand, gleich wer, in einer Behausung hier auf Dauer ansiedeln wollen, hätte ihn niemand daran gehindert, ich denke jedoch, kein Inselbewohner wäre auf diese Idee gekommen, ja, sie kehrten bei ihren Aufenthalten in der unteren Stadt sogar selten in die gleichen Häuser zurück. Auch ich hatte, bevor ich Karael kennen lernte, zuerst in einem leeren Haus an einem großen quadratischen Platz, in dessen Mitte ein Reiterstandbild aufragte, gewohnt – war ganze Tage lang am Fenster gesessen und hatte beobachtet, wie der Schatten des steinernen Reiters wie die großen Uhrzeiger einer Sonnenuhr auf dem heißen Pflaster weiterwanderte –, später fand ich bei einem meiner Spaziergänge Gefallen an einem Haus direkt am Stadtrand, dessen Fenster auf die sandige Ebene gingen, und ich bezog es augenblicklich. Und als ich bereits im Haus meiner Freundin wohnte, kehrte ich für lange Zeit in die untere Stadt zurück; das taten alle Inselbewohner, das Band zwischen Mann und Frau war auf der Insel nicht allzu fest, und es war üblich, dass einer der Partner für lange Zeit in der unteren Stadt verschwand und wieder zurückkehrte.
Die Einförmigkeit und die Breite der Straßen erweckten den Eindruck, die untere Stadt wäre sehr ausgedehnt, in Wirklichkeit konnte man aber innerhalb einer Viertelstunde von einem Ende zum anderen gelangen. Die Stadt war auf einem regelmäßigen schachbrettartigen Grundriss angelegt; ein Besucher spazierte durch lange, gerade Straßen, auf denen er niemandem begegnete, aus den Pflasterritzen wucherten stachelige Halme, wie sie überall auf der Küstenebene wuchsen, an jeder Ecke öffnet sich der Blick auf eine monotone Perspektive weiterer leerer und gerader Straßen, die in regelmäßigen Abständen von den Einmündungen von in den Schallen getauchten Querstraßen unterbrochen wurden. Er hatte den Eindruck, die geraden Linien würden in die Ferne eilen, als wollten sie ihn so rasch wie möglich zu einem wichtigen Ziel führen, am Ende aller Straßen erblickte er aber nur Wellen blassen Sands oder eine Felswand. Er kam an Kolonnaden, versiegten Fontänen, deren Metallschalen von Dornenranken zugewachsen waren, an abgeblätterten Fassaden von Häusern und Palästen mit gelbem Gras und mit aus den zerbröckelnden Gesimsen hervorwachsendem Strauchwerk vorüber. Er schritt heiße Mauern entlang, an Reihen scheibenloser hoher Fenster vorbei, aus denen der angenehme Geruch leerer, von der Sonne durchwärmter Zimmer auf ihn wehte. Aus der Ebene drang ein Gürtel hohen Schilfs in die Stadt vor, das die Ufer des Flusses säumte; wenn ein Besucher sich entschloss, diesen dichten feuchten Dschungel zu betreten, entdeckte er darin nach einer Weile überrascht die überwucherten Skulpturen von Sphingen und mächtigen liegenden Löwen, die von einer Kruste aus sandigem Lehm und verfaultem Lauh überzogen waren, breite, zum Fluss hinabführende Treppen, große, in Granitplatten eingesetzte metallene Ringe.
Die untere Stadt war nicht von denVorfahren der Insulaner errichtet worden, Eroberer, die vor vielen Jahren an Land gegangen waren, hatten sie an der Stelle des Hafendorfes gebaut. Ich meinte, in den Verzierungen der Fassaden, in den jahrhundertelang vom sandigen Wind polierten architektonischen Bestandteilen abgewandelte, durch Züge römischen und spanischen Barocks verzerrte Elemente venezianischer Architektur zu finden. Aus diesen Spuren stellte ich mir die Geschichte der Stadt zusammen, ich dachte darüber nach, wie wohl die Menschen gewesen waren, die hier einst an den Ufern der Insel landeten und diese Häuser und Paläste bauten, und ich sah Seefahrersoldaten mit schmutzigen Spitzenkrägen, die halb als Piraten, halb in den Diensten ihres Königs die Meere befuhren, ich stellte mir Gestalten vor, von denen jede gleichzeitig Weltreisender, Bandit, Techniker, Erfinder und Geograf war, es schien mir, dass mancher von ihnen in Pariser oder Londoner Salons etwas von der neuen Philosophie aufgeschnappt hätte.
Sie litten an Heimweh, hätten es aber nicht mehr ausgehalten, dort zu leben, sie hatten sich an die endlose Weite des Meeres gewöhnt, an die Hitze, die alle Gedanken auflöst wie Alkohol, an lokkende Küsten, die sich wie wundervolle Blüten vor dem Bug auftun. Sie entdeckten neue Länder und raubten zum Ruhm eines Königs, den man leicht ehren konnte, weil er weit weg war, brachten es aber nicht mehr fertig, jemandem untertan zu sein und Gesetzen zu gehorchen. Als sie an den Stränden dieser InseI landeten, deren friedliche Bewohner nicht die Kraft hatten sich zu wehren, als ganze Tage bunte Edelsteine vor ihren Augen funkelten und da die Frauen, die sie trafen, schön und willfährig waren, beschlossen sie, sich auf der Insel ganz niederzulassen und hier ihr Königreich, eine neue Heimat aufzubauen, die sie wahrscheinlich nach ihrem Land oder ihrem König benannten.
Ich betrachtete die übertrieben verschnörkelten, eingerollten Voluten, das üppig wuchernde Dickicht steinerner Akanthusblätter auf den Kapitellen der Säulen und die bizarr gebogenen Ohrmuscheln, und mich dünkte, diesen Denkmälern sei immer noch anzumerken, dass die Gebäude aus Heimweh entstanden waren, ihre Erbauer aber nach jahrelangen Irrfahrten über die Meere die Ordnung und die Maße der Heimat vergessen hätten. Der Atem des Südens hatte die Formen zu einem phantastischen und unerfreulichen tropischen Rokoko gedehnt und verbogen. Heute noch verströmen die Mauern der Paläste Stolz, Sehnsucht, Unheil, Traum und Schmerz. Die von Bogengängen umrundeten inneren Palastgärten, die jetzt von Schilf bewachsen waren, verrieten, wie die Fremden dieses Land, in dem sie zu Gebietern geworden waren, hassten und wie sie sich mit ihren Erinnerungen in den Innenräumen der Häuser zu verstecken trachteten.
Die breiten geraden Strassen und die rechtwinkeligen Kreuzungen sollten den Triumph der Ordnung ausdrücken, die Europäer wollten, dass die Einwohner der oberen Stadt, die sie als ein wildes Labyrinth verspotteten, beim Anblick des regelmäßigen schachbrettartigen Netzes der Stadt, die unterhalb ihrer Felsenhöhlen auf der Ebene unten lag, staunten, sie wollten, dass die Eingeborenen Demut verspürten, sooft sie durch diese pompösen Straßen schritten. Aber eben diese Geometrie und Symmetrie nahmen in der blendenden sengenden Sonne halluzinatorischen Charakter an und trugen nicht minder zum traumartigen Aussehen der Stadt bei wie die trügerischen Paradiese der inneren Gärten und die wuchernden Ornamente auf den Fassaden, die sich hinter dem Rücken ihrer Schöpfer schmählich mit den Formen der bodenständigen Felsen und Bäume anfreundeten.
Die Insulaner wehrten sich nicht gegen die Eindringlinge. Ihre Friedfertigkeit verwirrte mich während der ganzen Zeit meines Aufenthalts auf der Insel, einmal äußerte sie sich als eine fast heroische Ruhe in Augenblicken der Bedrohung von Besitz und Leben, ein anderes Mal als apathische Trägheit und mangelnder Mut, auch wenn die Inselbewohner in Wirklichkeit keine Feiglinge waren: Ihre in die Gegenwart eingebrachten Schätze konnte ihnen niemand nehmen, und sie wussten das; es gab also keinen Grund, sich vor etwas zu fürchten, die Geräusche, denen sie lauschten, und das Chaos von Formen, deren Schrift sie lasen, fanden sie überall vor, ich glaube, dass sie sich auch den Tod wie eine Art Geräusch vorstellten und deshalb keine Angst vor ihm verspürten. Dennoch hatte ich kein gutes Gefühl bei ihrer Nachgiebigkeit. Doch muss man sich vor Augen halten, dass sie die Eroberer am Ende besiegten, und ich denke, sie hatten von Anfang an von diesem überragenden Sieg gewusst. Ihre Fügsamkeit war Teil einer höchst erfolgreichen Strategie gewesen; ich weiß aber nicht, ob ihre Haltung dadurch erträglicher und ehrfurchtgebietender wird.
Als ich den Charakter der Insulaner besser kennen gelernt hatte, konnte ich mir vorstellen, wie dieser heimliche Krieg aussah, der offenbar so unauffällig gewessen war, dass die Eroberer lange gar keine Ahnung hatten, dass irgendein Kampf geführt wurde –und ihre unrühmliche Niederlage dabei von Beginn an feststand. Ich sehe die Fremden, wie sie den Insulanern herablassend die Geschichten und Dogmen ihrer Religion schildern, von den letzten wissenschaftlichen Neuheiten in Europa erzählen, von Naturwissenschaften, von den Gesetzen der Mechanik und einer neuen Lehre klarer und verständlicher Ideen reden, wie sie ihnen Bau- und Kriegsmaschinen vorführen. Ich stelle mir vor, wie die Insulaner ihnen zuhören, wie sie ihre Begriffe und Theorien wiederholen, ihre Gebete nachsagen. Die Fremden spüren, dass mit ihren Gedanken und mit ihrem Glauben etwas geschieht, dass sie sich seltsam verändern, können aber nicht ergründen, worin diese Verwandlung eigentlich besteht, da doch die Inselbewohner ihre Sätze nur wörtlich wiederholen, und daher können die Europäer sich nicht wehren, sehen keine Stelle, auf die sie losschlagen könnten, wissen nicht, was sie verbieten und ausmerzen, womit sie polemisieren und was sie widerlegen sollten. Die Eingeborenen hatten ja nicht einmal einen Gott, den man ihnen hätte nehmen müssen. Und die Insulaner sagen ihnen alles nach, reden immerzu, die Europäer flüchten vor ihnen in ihre Patios mit den Springbrunnen, haben aber den Eindruck, dass die ihre eigenen Worte wiederholenden Stimmen der Einheimischen wie das Summen von Insekten selbst durch die starken Mauern zu ihnen dringen.
Wenn die Inselbewohner die Theorien der Europäer wiederholten, wurde darin kein einziges Wort geändert, kein einziger Begriff, es fehlte kein Glied eines Beweises, die Regeln der Logik wurden nicht verletzt. Den Fremden aber kam vor, dass genau die Logik, die sie bis jetzt verwendet hatten, sich in dieser Wiederholung als traumartiges Spiel offenbarte und die logischen Konstruktionen als labyrinthische Bauten. Der methodische Prozess wurde durch nichts gestört, verwandelte sich aber in ein magisches Ritual. Immer noch galt, dass – wenn der Mensch sterblich und Sokrates ein Mensch war – Sokrates sterblich war, plötzlich jedoch schien der Mechanismus, der mittels des mittleren Gliedes das Prädikat aus der oberen Prämisse in die Konklusion überträgt, durch eine unbekannte Kraft, die die Eroberer aus Europa früher niemals bemerkt hatten, in Gang gesetzt zu werden; jetzt meinten sie zu bemerken, wie sich hinter den Figuren der Schlüsse ganz andere Mechanismen abzeichneten, die diese Kraft mit der gleichen Bereitwilligkeit und Ausdauer antrieb, sie glaubten die Umrisse fantastischer Syllogismen zu erblicken, in deren Urteilen sich an Stelle von Sokrates stinkende schuppige Ungeheuer abzeichneten und in deren Konklusionen der Widerschein giftiger Lichter und verhangene Schreie auftauchten, die in einer merkwürdigen Art, der man aber nichts entgegensetzen konnte, aus dem Timbre der Stimmen und dem Rhythmus der Prämissen hervorgingen. Es wäre schlimm gewesen, wäre diese Verwandlung nur eine Krankheit gewesen, von der die Logik in den Tropen befallen worden war, aber die Europäer spürten mit ständig wachsender Angst, dass in Wirklichkeit etwas weit Ärgeres vor sich ging; sie waren in eine Falle geraten, an diesem verfluchten Ort, von dem sie nirgendwohin mehr fliehen konnten, die Logik hatte ihre Maske abgesetzt und mit ironischem Grinsen ihren wahren Charakter enthüllt, den sie bisher verborgen hatte.



Übersetzung: Marcela Euler

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