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Hana Andronikova - Der Klang der Sonnenuhr

Übersetzung: Marcela Euler

Die Beugung des Armes, die Finger umfassen den weißen Henkel. Eine hellbraune Flüssigkeit füllt die Porzellantasse. Sie goß sich gerade Tee ein. Gegen den Türrahmen gelehnt beobachtete er die Rundung ihres nach vorne gebeugten Rückens.
- Haben Sie nach mir gerufen, Madame?
Ein Aufschrei des Schreckens hallte von der Wand wider. Sie drehte sich heftig um, der Deckel der Teekanne erzitterte.
- Du hast mich zu Tode erschreckt!
Die zwei Schritte über die Schwelle zum Eßzimmer hinterließen deutliche schlammige Spuren.
- Erschreckt?
- Ich habe dich nicht erkannt.
In ihrem Lachen lag noch die Schwere des Schreckens.
Die dicke Staubschicht ließ seine Haare sonderbar grau erscheinen, der zentimeterlange Bartwuchs zeugte von einem einwöchigen Fernbleiben der Rasierklinge, und der dunkle Teint hätte Sonnenbräune, aber ebensogut auch Dreck sein können. Unter seinen Achseln zeigte das Hemd Schweißspuren, groß wie Mühlräder.
- Du siehst aus wie ein Wilder.
Er trat an sie heran.
- Wo ist er?
- Wer? Daniel? Im Bett.
Eine Mischung aus Gerüchen hüllte sie ein. Schweiß, Zement, Tabak, Kalk, Mörtel, Regen. Er nahm ihr die Tasse aus der Hand und stellte sie zurück auf das Tablett. Die Tischdecke hinter ihrem Rücken war eine Handvoll Blumen und tropisches Obst. Er hob sie auf den Tisch. Er drücke sich an sie, ihr Körper war ein Garten voller Früchte, die ihm angeboten wurden. Atemlos versuchte sie, sich gegen ihn zu wehren.
- Er schläft noch nicht! Er wartet auf die Gute-Nacht-Geschichte.
- Er soll warten.
- Maa–maa!
- Das glaube ich kaum.
Er verdrehte die Augen und ließ seine Hände sinken.
- Kannst du ihm eine kurze Geschichte erzählen?
- Und kannst du dich waschen?
Sie strich mit den Händen über das Kleid, um die Spuren seiner Berührungen zu glätten. Er machte die Lichter im Eßzimmer aus, ging ins Bad und griff nach der Seife. Die Tür ließ er halb offen, damit ihm die Gute-Nacht-Geschichte nicht entging.

Ich werde dir erzählen, wie ein tapferer Krieger zum Herrscher der Mixteken wurde. Eines Tages bestieg er einen Hügel und rief: Wer der Herr dieses Landes sein möchte, der muß mich in einem Kampf besiegen! Alle hörten ihn, doch keiner kam auf die Idee, sich mit ihm zu messen. Als er von dem Hügel hinabstieg, kitzelte ihn die aufgehende Sonne im Gesicht. Er dachte, die Sonne fordere ihn zum Kampf auf. Er holte seinen Bogen hervor und schoß einen Pfeil gegen die Sonne.
Und die Sonne? Sie beachtete ihn nicht und zog am Himmel weiter ihre Bahn. Der Krieger verharrte bis zu dem Zeitpunkt in Bereitschaft, bis die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Ich habe die Sonne besiegt, rief er dann in die stillgewordene Landschaft. Ich habe die Sonne besiegt! Und so wurde er zum Herrscher der Mixteken. Seitdem nennen die Mixteken ihren Herrscher „Der, der die Sonne besiegt hat“.
- Das war aber eine kurze Geschichte!
- Morgen werde ich dir eine längere erzählen, ja? Gute Nacht.
- Aber die Sonne hat gar nicht gegen ihn gekämpft!
- Nein. Sie hat nicht gegen ihn gekämpft.
- Wie konnte er also gewinnen, wenn sie gar nicht gekämpft hat?
- Manchmal gewinnst du dann, der andere nicht kämpft. Und manchmal gewinnst du, weil du nicht kämpfst. Du läßt den anderen einfach in Ruhe, damit er denkt, er habe gewonnen. Wie in dem Sprichwort, der Klügere gibt nach. Und die Sonne war klüger, deshalb hat sie nachgegeben. Das kann sich nur derjenige erlauben, der so stark ist, daß er seine Überlegenheit niemandem beweisen muß. Und jetzt schlaf schon.

Als sie ins Schlafzimmer kam, grinste er amüsiert.
- Wie konnte er gewinnen, wenn sie gar nicht gekämpft hat?
- Hör auf!
- Ich weiß nicht, ob ich deine Definition der siegreichen Niederlage begriffen habe, eines Kampfes ohne Kampf und des schlaueren Dummen und des dümmeren Schlauen. Ich würde da nicht mehr durchblicken.
- Siehst du, er hat das verstanden.
- Und ich frage mich immer, von wem von uns beiden er diese Intelligenz hat!
Er lachte laut los und stürzte sich auf sie. Sie wehrte sich mit einem leisen Lachen.
- Du schreist wie ein Tiger. Wenn er dich hört, wird er nachts Angst haben.
- Er soll vor allem nicht hier reinkommen.

Am Tag vor der Abfahrt meiner Mutter kam der Großvater Rudolf aus Olomouc. Wir begleiteten sie zum Bahnhof.
Sie sagte mir, wir würden uns bald wieder sehen. Und paß auf den Papa auf, ja?
Sie war so schön. Ich liebte sie mit einer besitzergreifenden Liebe, blind und rücksichtslos. Die Mutter war eine Selbstverständlichkeit. Wie Luft. Wie Brot.
Als sie wegging, sagte sie zu mir, die Sonnenstrahlen seien die Boten des Sonnengottes, wir würden uns mit deren Hilfe Nachrichten schicken. Wenn du die Sonne sehen und ihre Strahlen in deinem Gesicht spüren wirst, weißt du, daß es meine Hände sind, die dich streicheln, daß ich in deiner Nähe bin. Der Mond wird dir die Gute-Nacht-Geschichten erzählen.
Noch ein letztes Mal drückte ich mich an sie. Ich roch den bekannten Duft, den sie verbreitete.
- Denk daran, daß du die Menschen, die du wirklich liebst, niemals verlieren kannst.

Sie stieg in den Zug. Mein Vater fuhr mit ihr mit. Ich blieb mit meinem Großvater allein.

...

Als er zurückkam, erkannte ich ihn nicht wieder. Er war anders. Ganz anders.

Sie war weggegangen. Mein Atem wurde zu einen Schnappen nach Luft. Ich schaffte es, direkt in die Sonne zu starren, die Augen weit geöffnet, nur damit ich ihr Lachen darin sehen konnte. Als ich die Augen abwandte, verschwand die restliche Welt. Ich sah nichts mehr. Erst nach einer Weile tauchten langsam dunkle Umrisse auf. Die Welt, in der sie fehlte, in Sonnenstrahlen zerlegt. Ich der Nacht, in der sie zum ersten Mal nicht bei mir war, hatte ich einen Traum. Wir irrten durch eine unbekannte Gegend im hohen Schnee, in einem tiefen Wald. Um uns herum heulten die Wölfe. Wir rannten, stolperten über Baumwurzeln, die wie Arme von Kraken sich um unsere Füße schlangen. Ich rannte lange, Stunden vielleicht, bis mir klar wurde, daß ich alleine lief.
Ich erinnerte mich an den Großvater aus Prag. An das goldene Kästchen mit der Thora, an das gedämpfte Licht in der Synagoge, in der sich der unsichtbare Gott aufhielt, und ich begann, zu diesem zu beten. Gott, Du hast die Welt erschaffen, Du hast den Menschen erschaffen. Laß bitte nicht zu, daß meiner Mutter etwas zustößt.
Mich interessierte, wo Theresienstadt lag und was meine Mutter dort wohl machte. Wir waren immer alle zusammen gewesen, die Mutter, der Vater und ich. Jetzt hatte ich nur meinen Vater, der sich eine ungeheuere Mühe gab, aber ich wußte ganz genau, wie schrecklich traurig er war. Ich war auch traurig.



Ich hörte das Spiel des Regens in den Dachrinnen. Mir war klar: Er glaubte nicht mehr, daß meine Mutter je zurückkommen würde.

- Und wann fahren wir?
- Sobald wie möglich. Eher, bevor es zu spät ist.
Seine Augen waren wie Bergseen.
- Es ist sowieso zu spät...
- Denkst du, daß wir schon früher hätten fahren sollen?
Er sah auf das Klavier meiner Mutter und lächelte wieder so seltsam.
- Vor zehn Jahren.
Tränen liefen ihm wie Regen über seine Wangen. Noch nie vorher hatte ich meinen Vater weinen sehen. Der Gedanke an sie war wie Diamant. Er zerschnitt ihm das Innere. Mir tat es leid, daß ich ihn ausgefragt hatte, und so umarmte ich ihn, damit er wußte, daß ich ihn verstand.
Ich denke, ich habe ihn verstanden. Ich brauchte Sicherheit, und er war die Verkörperung davon. Doch beide hielten wir unsere Gefühle im Zaum. Zwar konnte keiner von uns beiden sich von der Vergangenheit lösen, doch wir sprachen nie darüber. Wir mochten die Kunst, vor allem die Malerei. Darüber konnten wir sprechen. Anhand der Gespräche über Bücher, Bilder oder Musik teilten wir uns Gefühle mit, die wir nicht offen aussprechen konnten oder wollten.

Rachel, ich muß weg aus dieser Stadt, in der ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Der Winter, der nie zu Ende gehen wird, und die Menschenmassen in den Straßen; wortlos gehen sie an mir vorbei, mit ihren Schicksalen im Gesicht; in den Augen, in jedem dieser Blicke sehe ich dich. Ich laufe dir entgegen, bis zum Ende der menschenleeren Straße. Der gefrierende Regen wird in meinem Haar grau. Ich muß weg.
Ich will dich nie mehr verlieren.




Übersetzung: Marcela Euler

 

 


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