Deutsch / Leseproben /

Irena Dousková - Der Tapfere Bella Tschau

Übersetzung: Mirko Kraetsch

1. Wie die Olinka tot war


          Gestern war ein wichtiger Tag. Gestern habe ich im Schulfunk ein ganz schönes Lied über einen italienischen Partisanen gehört. Der hieß Bella Tschau, und er war sehr tapfer, obwohl er dann gestorben ist, und das war traurig. Ich bin öfter mal traurig, vor allem, weil ich dick bin und alle über mich lachen. Aber gestern habe ich mir gesagt, dass ich mich nicht unterkriegen lasse. Ich werde genauso tapfer sein wie Bella Tschau.
          Ansonsten ist mir gestern so eine unschöne Sache passiert. Das sagt nämlich immer der Direktor vom Theater, „unschöne Sache“, und den kenne ich nämlich, weil Mami Schauspielerin in dem Theater ist und Papi auch. Und der Direktor da, genau wenn er den Schauspielern sagen will, dass etwas schlecht ist oder so, dann sagt er: „Genossen, das ist so eine unschöne Sache.“ Ich kann ihn eigentlich nicht besonders leiden, weil er aussieht, wie wenn ein Totenkopf lacht. Vor Totenköpfen und Gerippen habe ich von allen am meisten Angst. Ich habe auch ziemliche Angst vor Teufeln und vor Hunden, weil mich einmal einer ins Bein gebissen hat, aber das war in Zákopy bei Opa und Oma. Aber die „unschöne Sache“ gefällt mir, das sagt man eben einfach so.
          Gestern, als wir in die Schule gekommen sind, da hat uns unsere Lehrerin Frau Koláèková gesagt, naja, eigentlich nicht, als wir in die Schule gekommen sind, sondern als der Unterricht vorbei war, da hat sie uns gesagt, dass wir noch einen Moment still am Platz bleiben sollen, dass sie uns noch was sagen muss. Und sie war so ernst, dass ich mir gleich gedacht habe, dass jetzt genau so eine unschöne Sache kommt.
          Wie als sie uns vor kurzem auch mal gesagt hat, dass sie uns etwas sagen will, und dann hat sie den Hrùza an die Tafel gerufen und ihm einen Lutscher gegeben und der Hrùza hat so komisch geguckt, aber der guckt immer so, ziemlich komisch. Und sie hat gesagt: „Kinder, euer Mitschüler Láïa Hrùza verlässt uns und geht in die Hilfsschule, also werden wir für ihn noch mal schön Beifall klatschen.“
          Und gestern hat sie uns dann gesagt: „Kinder, es ist etwas sehr Trauriges passiert, eure Mitschülerin Olinka Hlubinová ist gestorben, weil sie sehr krank war, am Herz.“ Und da sind wir alle erschrocken und dann sind wir nach Hause gegangen. Und ich muss jetzt andauernd daran denken.
          Die Olinka ist zwar nicht aus der 2 B wie ich, sie ist aus der A, aber trotzdem. Sie hat solche kurzen schwarzen Haare und kann schrecklich schön malen. Ich kenn sie gar nicht so gut, aber unsere Lehrerin hat uns oft Zeichnungen gezeigt, die die Olinka gemalt hat, weil die schön sind. Jetzt ist sie gestorben, da werde ich sie wahrscheinlich nicht mehr wiedersehen, aber die Zeichnungen kann uns unsere Lehrein ruhig andauernd zeigen. Das ist ziemlich seltsam.
          Zu Hause habe ich das gleich erzählt und habe gefragt, wie das kommt, dass sie gestorben ist, wo das doch noch ein kleines Mädchen ist, weil ich nämlich weiß, dass jemand stirbt und dann nie wieder nach Hause und überhaupt nirgendwohin mehr kommt, aber vor allem, wenn er alt ist. Und ich habe auch gefragt, was das ist, „am Herz gestorben“, und angeblich ist das so, dass das Herz die allerschlimmste Krankheit ist. Und wenn jemand ein Herz hat, dann muss er fast ganz sicher sterben. Mami hat mir dann zwei Kekse gegeben, wahrscheinlich, weil ich traurig war wie ein Hund. Da habe ich mich gefreut und war immer noch traurig.
          Vor den Ferien ist mir das auch passiert. Ich habe mich gefreut, weil ich Einsen auf dem Zeugnis hatte, und wir sind dann Torte essen gegangen, ich darf nämlich ansonsten keine Torte essen, weil ich so dick bin, und da habe ich mich gefreut und auch, weil Ferien waren, aber ich war traurig, weil sie uns gesagt haben, dass unsere Hortnerin Olga Jeøábková gestorben ist. Aber die hat sich selbst gestorben. Da haben sie uns nicht gesagt, das haben sie mir zu Hause gesagt, dass sie sich vergiftet hat. Sie hat sich nämlich mit Gas vergiftet und ist explodiert und auch das Haus, wo sie gewohnt hat, ist explodiert und darum sind auch noch ein paar fremde Leute mit gestorben. Und ich weiß gar nicht, warum, sie war nämlich nett und lustig und ich konnte sie gut leiden, weil sie mich beschützt hat als ich der Zdenka in die Hand gebissen habe, weil ich in der Zweierreihe zum Mittagessen nicht neben ihr gehen wollte, aber sie wollte und man konnte ihr das nicht klar machen, dass ich nicht will. Und dann hatte ich Angst, was ihre Mutter mit mir macht, Frau Klímová, wenn sie sie im Hort abholen kommt und die angebissene Hand sieht. Frau Klímová ist auch eine Lehrerin bei uns in der Schule, aber sie gibt bei den großen Kindern Russisch. Und die Zdenka hat geheult und ich hab mich im Hort lieber unter den Tisch gesetzt und hab auch geheult, bis mich unsere Hortnerin zu sich genommen und beschützt hat.
          Bloß Kaèenka, so sage ich nämlich zu meiner Mami, Kaèenka hat auch nicht gewusst, warum sich unsere Hortnerin das angetan hat. Zu Papi hat sie dann in der Küche gesagt, dass diese Schweine sie in den Tod getrieben haben. Da hat sie wahrscheinlich die Russen oder vielleicht die Kommunisten gemeint, weil nämlich Russen und Kommunisten Schweine sind, aber das darf man nicht sagen. Aber Kaèenka und die Andrea Kroupová sagen das sowieso immer und singen so ein Lied gegen die Russen und Kaèenka will mich nicht zu den Jungpionieren gehen lassen, weil die Pioniere angeblich kleine Kommunisten sind. Ich weiß nicht, aus unserer Klasse geht da die ganze Klasse hin und ich würde auch gern da hingehen. Ich gehe schon zum Zeichnen, zum Deutsch und zum Ballett, weil ich dick bin, also muss ich zum Training. Aber zu den Jungpionieren würde ich auch noch wollen.
          Zum Deutsch geht niemand, nur ich, zu Frau Freimanová, die letztes Jahr meine Lehrerin in der ersten Klasse war und dann in die Rente oder irgendwohin gegangen ist. Sie ist jetzt nicht mehr unsere Lehrerin in der Schule und unterrichtet bei ihr zu Hause nur noch mich.
          Zum Ballett gehen viele Kinder, vor allem Mädchen, aber die sind alle sehr hübsch und niemand ist dort dick, nur ich, und darum lachen sie mich aus, wenn ich trainiere und sonst auch. Ich hab dort auch eine Freundin, aber das ist die Frau, die uns Tanzen beibringt, weil das eine Bekannte von Kaèenka aus dem Theater ist. Sie sagt dort im Radio an, wer auf die Bühne soll, das heißt Inspizientin. Davor war sie eine echte Balletttänzerin, aber jetzt ist sie auch dick.
          Am besten von allem ist der Zirkel für bildende Kunst bei Herrn Pecka im Kulturhaus, dort gefällt ’s mir gut. Da zeichne ich und male und vor allem modelliere ich. Dann wird das im Ofen gebrannt und ist eine Statue. Früher sind da auch andere Kinder hingegangen, aber Herrn Pecka hat gefallen, was ich so male und was ich so sage und er hat Kaèenka überredet, dass sie mich abends gehen lässt, wenn die Erwachsenen da hingehen. Deshalb mache ich jetzt Statuen mit alten Malern statt mit Kindern und mit dem Neèek Pacák, das ist auch ein kleiner Junge, den Herr Pecka zwischen sich haben wollte. Herr Pecka hat einen Plattenspieler und wenn gemalt wird, dann macht er Mozart an, das ist angeblich der allerbeste Musikkomponist von allen, die es auf der ganzen Welt gibt, sowas wie Bedøich Smetana, aber noch viel besser. Und das ist wirklich ganz, ganz schön. Obwohl die Andrea Kroupová, das ist auch eine Schauspielerin aus dem Theater von Kaèenka und die Freundin von Kaèenka, die hat gesagt, dass das nicht stimmt, dass der allerallerbeste jemand anderes ist, auch mit B. Ich glaube Bachofen. Und die erzählen da auch immer interessante Sachen und ich glaube, dass ich Bildhauer werde, wenn ich groß bin.
          Gestern hat Herr Pecka gesagt, dass er gehört hat, dass man jetzt Hosen trägt, die wie Glocken aussehen, oben schmal und eng und unten weit und ganz, ganz bunt. Er hat auch gesagt, dass er sich nicht zum Kasper macht und solche Hosen trägt er nur über seine Leiche. Und mir gefällt das auch nicht und Herr Pecka ist aus Prag und er ist Bildhauer.
          Die Andrea Kroupová hat schon solche Hosen an und sie ist ganz, ganz schön, aber Kaèenka ist sowieso viel, viel hübscher. Die Andrea hat mir gesagt, dass eine Frau niemals Bildhauer werden kann, aber Herr Pecka sagt, dass eine schlaue Frau alles sein kann, was sie will.
          Ich glaube, dass Frau Freimanová, die in der ersten Klasse meine Lehrerin war und mir jetzt Deutsch beibringt, dass die ganz, ganz schlau ist. Vor allem, weil sie deutsch kann und auch, weil sie Sachen erzählen kann, die mir helfen, wenn ich irgendwelche Schwierigkeiten im Kopf hab, wie gestern mit der Olinka. In der ersten Klasse wollte mich Kaèenka bei der Kirche zur Christenlehre anmelden, aber Frau Freimanová hat ihr das ausgeredet, weil ich angeblich auch so schon genug Schwierigkeiten haben werde. Und genau die Schwierigkeiten in meinem Kopf hat sie da gemeint, und die hab ich wirklich.
          Als ich gestern vom Deutsch nach Hause gegangen bin, da war es schon dunkel und es war ganz, ganz schönes Wetter, es hat nämlich ganz doll geschneit und der Wind hat geweht und alle Schaufenster waren beleuchtet und es waren schon die Weihnachtsdekorationen drin. Und so bin ich ganz langsam gegangen, damit ich schön was davon hatte, und ich habe ein bisschen Schnee gegessen, das darf ich, der ist überhaupt nicht süß, und ich hab Spuren gemacht. Und dann bin ich eine Weile am Schreibwarenladen stehen geblieben, weil mir der am besten gefällt, und ich hab die schönen Buntstifte angeguckt, die immer so gut riechen, und das Zeichenpapier und alle die ganzen verschiedenen Farben und die Sachen, die ich so gut leiden kann. Auf dem Schaufenster war unten so Reif mit Blümchen und Sternchen, und da habe ich meine Handschuhe ausgezogen und mit dem Finger aufs Glas geschrieben: Lieber Christkind, bitte bring mir die Filzer, wo so viele drin sind, auch einen rosanen und einen orangenen und Plasteline, wenn’s geht. Ich werde ganz, ganz artig sein. Dankeschön, Helena Souèková, Antonín-Zápotocký-Str. 429, Nièín-O.
          Und dann wollte ich noch ein bisschen gucken und Schnee schnüffeln, aber dann habe ich auf einmal gesehen, dass die Olinka Hlubinová im Schaufenster steht und mich ganz schrecklich böse anguckt. Sie hatte ein ganz langes weißes Kleid an und ein weißes Gesicht und sie hatte ein Blatt Papier in der Hand, auf dem überhaupt kein Bild war und das auch bloß ganz weiß war. Und ich wollte wegrennen, aber es ging nicht.
          Die Olinka hat gesagt: „Gib mir meine Wasserfarben wieder, sonst spuke ich bei dir, so lange, bis du auch eine Leiche bist.“ Und ich habe gesagt: „Olinka, bitte nicht so böse sein! Ich hab dir doch gar keine Wasserfarben weggenommen. Ich bin doch gar nicht in eurer Klasse. Ich hab bloß die alten, die mir Kaèenka für die erste Klasse geschenkt hat.“ „Jemand hat mir meine Wasserfarben geklaut und ich kann jetzt nicht malen“, hat die Olinka dann gesagt und war ziemlich sauer. „Dann geb’ ich dir eben meine, wenn du willst“, hab ich gesagt und hab meinen Ranzen abgenommen und der Olinka die Farben gegeben. „Na gut, aber du musst schwören, dass du nie so schön malen wirst wie ich“, wollte die Olinka. „Ich schwör’s dir!“ Ich hab also geschworen und bin dann schnell nach Hause gerannt, weil es jetzt wieder ging. Und ich bin zweimal hingefallen.
          „He, du siehst wieder aus wie ein polnischer Jude“, ärgerte sich Kaèenka mit lauter Fremdwörtern über mich. „Deine Jacke ist falsch geknöpft, dein Schal schleift auf dem Boden, die Mütze hast du in der Tasche und ganz durchgeweicht bist du auch irgendwie. So ein schlaues Mädel, und kommt daher wie aus der Hilfsschule.“ Aber das war noch gar nichts. Als dann die Frau kam und meine Hausschuhe im Beutel mitgebracht hat und die Handschuhe und die Wasserfarben, die ich der Olinka geschenkt hab, da war es viel schlimmer. Ich sollte mal über mich nachdenken, und dabei bin ich doch schon so nachdenklich.
         

Formátuj pro tisk
Návrat na homepage