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Martin Fahrner - Steiner oder Was wir gemacht haben

Fliegerangriff auf Dresden

(Übersetzung: Mirko Kraetsch)

Die Straße, in der mein Großvater geboren wurde, hieß Nová hospoda, Neues Gasthaus. Ihren Namen hatte sie von dem weithin berühmten Lokal der Eltern meines Großvaters. Es war ein Ausflugsrestaurant mit Tischchen unter einer großen Kastanie und mit einem an die Wand gequetschten Tanzboden. Jeden Sonntag spielte hier die Blasmusik und übers Parkett tanzten die Fräuleins mit langen Kleidern und nostalgischen Hütchen.
Mein Großvater trug immer einen gestreiften Paradeanzug und hatte die Haare mit Zuckerwasser nach hinten gekämmt. Er setzte sich zu den Fräuleins, erzählte ihnen etwas und vom Tisch, wo er plauderte, ertönte oft fröhliches Lachen.
Auf diesen Hof hinaus ging ein Fenster des Nachbarhauses; es war just das Fenster der Küche, wo man sich zu jener Zeit am häufigsten aufhielt, und durch dieses Fenster schaute ein bezopftes heranwachsendes Mädchen dem Treiben zu.
Es sah so aus, als würden ihm die hübsch zurechtgemachten Leute und die Musik und die Lampions gefallen, die am Abend erstrahlten, aber es schaute auch am nächsten Tag aus dem Fenster, als Großvater den Hof nach dem Tanz aufräumte, und so bekam die Mutter dieses Mädchens einen Verdacht.
Ihr fiel auf, dass ihre Tochter schon fast erwachsen war, und sie erschrak: Hatte sich das Mädchen auch ja nicht in den Nachbarsjungen verguckt? Der scharwenzelte ihr nämlich fast schon zu viel um die Fräuleins herum. Sie machte sich klar, dass dies eine höchst sensible Angelegenheit war, denn solch ein junges Mädchen war ein Bündel widersprüchlicher Gefühle, und so wartete sie ab, bis sich eine geeignete Gelegenheit bot mit der Tochter zu sprechen. Die Nachbarn lebten zwar in guten Besitzverhältnissen und gaben ihren Kindern auch eine ordentliche Erziehung – und doch schien Urgroßmutter das Ganze irgendwie keine gute Partie zu sein. Sie dachte vorausschauend und befürchtete, dass dieser Nachbarsjunge seine Frau später einmal mit Fräuleins betrügen könnte.
Als sich endlich jene geeignete Gelegenheit bot, stellte sich heraus, dass ihr Bündel widersprüchlicher Gefühle mit dem Nachbarsjungen bereits meinen Vater erwartete. Noch bevor sie sich jedoch zu der ganzen Sache eine Meinung bilden konnte, kam die Mobilisierung und der Nachbarsjunge, da er tschechischer Staatsbürger war, wurde ins Grenzgebiet eingezogen.
Als er zurückkam, hatte Großmutter schon einen hübschen Bauch und Urgroßmutter hoffte, dass ja jetzt wohl endlich Hochzeit sein würde. Aber kurz danach besetzten uns die Deutschen. Und der Nachbarsjunge, da er durch seine Eltern deutscher Nationalität war, wurde zur Wehrmacht einberufen.
Als er auf Urlaub kam, versuchte er Großmutter zu heiraten, aber die deutschen Behörden verkomplizierten ihm die Sache, wo sie nur konnten, weil sie dieser Mischehe ablehnend gegenüberstanden, und so fuhr Großvater ledig aufs Schlachtfeld zurück.
Erst gegen Ende des Krieges, als er zur Verteidigung Dresdens abkommandiert worden war, schrieb er Großmutter einen hoffnungsvollen Brief. Er schrieb, dass die Angriffe jetzt immer häufiger kamen und sich in dieser Zeit sich die Kirchen immer mit Menschen füllten. Und die, die in Sünde zusammenlebten, baten den Priester sie zu trauen, falls die Kirchenmauern sie anschließend eventuell unter sich begraben sollten.
Und so standen die Leute angeblich Schlange vorm Altar und während ringsumher das Donnern dröhnte, segnete der eine Priester die frisch vermählten Paare und der andere schrieb sie ins Kirchenbuch ein. Für irgendwelche Dokumente war keine Zeit.
Großmutter klapperte nun mit meinem kleinen Vater alle möglichen Ämter ab, bis sie schließlich einen Passierschein für eine Woche bekam, und sie nahm meinen kleinen Vater und schlug sich durch in kalten Zügen, denn in jenem Winter am Ende des Krieges wurde in den Zügen nicht mehr geheizt, sie schlug sich durch in diesen Zügen, die wegen Luftangriffen andauernd irgendwo in den Feldern stehen blieben, schlug sich durch bis Dresden.
Sie fuhr nach Dresden, obwohl man wusste, dass die Alliierten es auf die Stadt abgesehen hatten, dass dort ständig Bomben fielen, merken Sie sich das gut, sie fuhr dorthin, weil sie nicht länger in Sünde leben wollte.
Und als sie endlich an Ort und Stelle war, nahm sie Quartier in einem Hotel und sah sich die Ruinen der Häuser an und besänftigte meinen kleinen Vater und wartete, bis Großvater sie holen kam. Bloß gab es gerade in dieser Woche, stellen Sie sich vor, keinen einzigen Luftangriff.
Meine Großmutter stand am Fenster, Vater schlief endlich, es war still und Großmutter betete, dass endlich ein Angriff kommen möge. Dass Dresden endlich bombardiert würde. Als von ihrem Urlaub nur noch ein letzter Tag übrig war, begannen endlich die Sirenen zu heulen …
Großvater erschien in der Tür und zog Großmutter mit dem kleinen Jungen durch die Menge von Menschen, die in die Luftschutzkeller eilten, hin zur nächsten Kirche; sie war schon fast voll, als sie endlich dort ankamen und sich zum Altar hindurchgedrängelt hatten.
Es dauerte nicht lange – Bomben fielen immer noch keine, nur die Sirenen heulten weiter – und Großvater und Großmutter waren ins Kirchenbuch eingeschrieben. Endlich waren sie auch offiziell ein Paar.
Stellen Sie sich das Glück vor. Es war blinder Alarm, die Flugzeuge, die die Flak-Stellungen erspäht hatten, warfen an diesem Tag keine Bomben ab. Und damit noch nicht genug: Großvater wurde gleich am Tag nach Großmutters Abreise irgendwohin abkommandiert – ein paar Tage hätten also gereicht und sie hätten nie geheiratet.
Und damit noch immer nicht genug: Einige Tage später kam ein tatsächlicher Luftangriff und machte das Hotel, wo Großmutter gewohnt hatte, dem Erdboden gleich, machte die Kirche, wo sie getraut worden waren, dem Erdboden gleich, machte ganz Dresden dem Erdboden gleich.
Großvater wurde schon bald gefangen genommen. Er kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Die Kirchenbücher in jener Dresdner Kirche, der einzige Beweis für Großvaters Heirat, gab es nicht mehr, doch Großvater erklärte, dass er in Böhmen Familie hätte. Sie rieten ihm ab, weil die Russen Böhmen bekommen hatten und Großvater an der Ostfront gekämpft hatte und man ja nie wissen konnte …
Aber Großvater ließ sich nicht von seiner Sache abbringen, und so wurde er dem Ostsektor übergeben, er wurde auf eigenen Wunsch, wegen Großmutter und ihrem Sohn, in russische Kriegsgefangenschaft übergeben. Obwohl er das ja getan hatte um nach Hause zu kommen, dauerte es noch sehr lange, bis er Großmutter in die Arme schließen konnte.
Als er endlich in Böhmen ankam, wurde seine Familie abgeschoben und das Restaurant konfisziert, aber Großmutter wartete immer noch auf ihn. Sie verbrachten nach Jahren wieder ein paar Tage zusammen, ehe Großvater erneut verhaftet wurde, weil er sich bei den Behörden gemeldet hatte, aber letzten Endes wurde er nicht abgeschoben, denn sie glaubten ihm, dass er eine tschechische Frau hatte.
In der Tat konnten sie nur glauben, denn es gab keine Beweise dafür. Doch Großmutter fasste eine Erklärung ab, dass das ihr Ehemann sei, den sie im Krieg geheiratet hatte – obwohl alle versuchten ihr das auszureden, denn in jener Zeit war es nicht leicht zu behaupten, dass man im Krieg einen Deutschen geheiratet hat. Wenn sich Großvater jetzt im Gartenrestaurant, das sie ihm weggenommen hatten, zu jemandem setzte, dann lachten die Leute nicht mehr, sondern verstummten.
Schließlich wurden sie bei den tschechischen Behörden doch noch als Eheleute eingetragen. Vater war schon ganz schön groß und man hätte es fast an seinen Fingern abzählen können, wie viele Tage die beiden eigentlich miteinander verbracht hatten.
Wundern Sie sich also deshalb nicht, dass sie nie mehr voneinander wichen und zusammen noch vier Kinder bekamen. Und Urgroßmutter hatte sich umsonst Sorgen gemacht: Großvater kümmerte sich bis zu seinem Tod nur um Großmutter.

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