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Michal Viewegh - Erziehung von Mädchen in Böhmen

Übersetzung: Hanna Vintr

1. Das Erstaunlichste, das, was uns am Anfang einer Erzählung am meisten verblüfft, ist die vollkommene Leere, die sich vor uns ausbreitet. Die Ereignisse haben sich zugetragen und umgeben uns in einer kompakten, formlosen Masse ohne Anfang und Ende. Wir können an jeder beliebigen Stelle beginnen...
Vìra Linhartová

Als ich an jenem Mittwoch mit meiner Tochter von der Schule nach Hause kam, quoll der Briefkasten förmlich über: Außer der obligaten Volkszeitung enthielt er einen großen braunen Umschlag mit den Fahnenabzügen meines Romans, einen weißen Umschlag, ebenfalls an mich adressiert, und schließlich, in einem blauen Zellophansäckchen, das zu jener Zeit vieldiskutierte Werbemustereines Produkts der Firma Procter & Gamble. Während ich den Briefkasten zuschloß, fiel mir auf, daß der Name auf dem Papierschildchen mit einem scharfen Kratzer ausgekreuzt war, offenbar vom Schlüssel eines jungen Lehrerhassers.
Im weißen Umschlag war ein kurzer Brief des örtlichen Millionärs Král. Er bot mir eine sehr gut bezahlte Beschäftigung mit geringem Zeitaufwand.
Mit anderen Worten: Der Beginn dieser Geschichte war nicht in einer formlosen Masse inmitten von vollkommener Leere angesiedelt, sondern lag am Dienstag, dem 16. Juni 1992, in einem weißen Umschlag in unserem Briefkasten.

»Ist was gekommen?« wollte meine Frau wissen.
»Für mich die Korrekturfahnen des Romans und ein Angebot für eine sehr gut bezahlte Beschäftigung «, sagte ich. »Für dich Binden.«
Herzlichen Gruß an die tschechischen Feministinnen.

Später sah ich mir den Brief genauer an. Logischerweise dachte ich, es handle sich um Nachhilfe für Agáta, aber ein wenig irritierte mich, daß Kral – nach außen hin uneingestanden, doch deutlich spürbar – ganz selbstverständlich annahm, ich würde sein Angebot akzeptieren; was zweifellos auch daran zu sehen war, daß er nur einen einzigen Termin für unser Treffen vorgesehen hatte. Unwillkürlich kam mir das bekannte Zitat von Fitzgerald in den Sinn: die hochnäsige Annahme, ich hätte an einem Sonntagnachmittag nichts Besseres zu tun.
»Nimmst du's an?« fragte meine Frau.
In ihrem Tonfall lag noch keine Wertung.
Ich zuckte mit den Achseln.
»Du wolltest doch einen postmodernen Roman schreiben «, meinte sie ironisch.
Aber ich war froh, daß sie das gesagt hatte; genauso gut hätte sie sagen können, daß wir jede Krone gebrauchen konnten.
Beides entsprach der Wahrheit.
»Wir werden sehen«, wich ich aus.
Sie ging ins Bad. Ich nahm die Korrekturfahnen zur Hand und sah die ersten Seiten durch. Dabei drehte ich das Radio laut auf, was zur Folge hatte, daß mich meine Frau später bei einer Bewegung ertappte, die ich laienhaft als Soul Move bezeichne. Sie betrachtete mich nachsichtig, das Handtuch um den Kopf gewickelt.
»Na gut«, gab ich zu. »Ich freue mich.«
»Gute Nacht«, gab sie sachlich zurück.

Und der Überdruß an den erdachten Bildern der Welt, der Argwohn gegenüber jeglicher Erfindung. insbesondere, und ganz offensichtlich zu Unrecht, gegenüber dem Althergebrachten und Ehrwürdigen in der Kunst der Literatur, hatte so radikal eingesetzt, daß eine seltsame Zeit der Demut vor der Sachliteratur und der Kunstfertigkeit und Wahrhaftigkeit des Tagebuchs anbrach.
Sergej Machonin

2. Ich sage gleich, daß die nun folgende Beschreibung von Králs Villa (ähnlich wie Králs Nachname) nicht ganz der Wirklichkeit entspricht, denn Králs Einverständnis mit der Veröffentlichung dieser Geschichte war eindeutig an die Forderung geknüpft, solche Vorkehrungen zu treffen, um eine eindeutige Identifikation unmöglich zu machen. Andererseits soll natürlich der genius loci des Viertels erhalten bleiben und zumindest die Tatsache Erwähnung finden, daß das rege Treiben der Zbraslaver Hauptstraße nicht bis hierher vordringt und jeder dritte, der an all den Sandsteineinfriedungen und schmiedeeisernen Gittern vorbeispaziert, hinter denen manchmal durch dichte Thujen ein großzügig angelegter Rasen oder der blaue Rand eines Swimmingpools zu erspähen ist, an einer Flexileine einen Hund edler Rasse führt.
Gerade, als ich feststellen konnte, daß die im Brief genannte Hausnummer mit der Nummer am Pfeiler des Eingangstors übereinstimmte, war ein unangenehmes, durchdringendes Geräusch zu hören: Das automatische Tor öffnete sich. Es war zwar offensichtlich die Einfahrt (das kleine Tor für die Fußgänger war rechts davon), doch als ich mich umsah und nirgends ein Auto erblickte, ging mir auf, daß offenbar jemand hinter den dunklen Fenstern nach mir Ausschau gehalten hatte und dieses Tor, diese Villa und diese ganze Welt sich in diesem Augenblick für mich und nur für mich auftaten. Mit einem freundlichen Lächeln in Richtung Villenfenster trat ich in den Garten, und meine linke Hand, die Finger weit gespreizt, schoß in angelernter Dankesgeste hoch (ja, ich höre das leichte Raunen im Leserpublikum, doch ich erkläre eidesstattlich, daß ich keinerlei Absichten habe, den ganzen Roman auf diese eine unwillkürliche Geste zu begründen, nicht einmal dann, wenn ich mir damit die Unsterblichkeit sichern könnte). In der nächsten Sekunde aber – ich kann es mir bis heute nicht erklären – wäre ich um ein Haar von einem schwarzen VW Golf-Kabrio überfahren worden; ich sprang erst instinktiv zur Seite, als ich das charakteristische Knirschen der Autoreifen auf dem Kies hörte. Der Wagen wich mir mit einem kurzen, schnellen Bogen aus – mit den rechten Rädern fuhr er dabei auf den Rasen – und blieb ein Stück weiter kurz stehen. Obwohl es sehr warm war, war das Dach nicht unten, und durch das getönte Glas sah man nicht gut hinein. Für einen Moment jedoch erblickte ich Beátas blasses, konzentriertes, fast strenges Gesicht im Seitenspiegel: den fest zusammengekniffenen Mund, die von der Sonnen brille verdeckten Augen. Sie vergewisserte sich, daß ich noch lebte, legte den Gang ein und verschwand hinter der Villa.
Von den Reifen wirbelte tatsächlich ein bißchen Staub auf.
Ehe ich noch meine Gefühle im Kopf ordnen konnte, stieß mich jemand von hinten zu Boden und drehte mir die Arme auf den Rücken. Vor Schreck und Schmerz schrie ich auf.
»Also, das versuchst du nächstes Mal nicht mehr mit uns!«
Das Knie des Stimmbesitzers bohrte sich furchtbar schmerzhaft in meine Nieren.
» Wir sind nämlich nicht blöd!«
»Aua!«
»Oder glaubst du das etwa?«
»Verdammt, aua!«
Die Stimme ließ ein Lachen hören, eine zweite gesellte sich dazu. Es waren junge Männerstimmen.
»Also, Freundchen: Suchst du jemanden?«
Der Druck des Knies ließ nicht nach. Noch nie in meinem Leben hatte ich die Grashalme aus dieser Nähe betrachtet. Ich versuchte den Kopf zu heben, um antworten zu können, doch sie drückten ihn wieder runter. Mit Anstrengung holte ich ein paarmal Luft und murmelte meinen Namen in den Lehm.
»Kenn' ich nicht«, sagte die Stimme spöttisch.
Mein anfanglicher Schrecken wandelte sich nun in Zorn.
»Um halb sechs«, stieß ich wutentbrannt hervor,« habe ich eine Verabredung mit Herrn Král. Eine Verabredung
Ich hätte nie geglaubt, daß ein paar Worte soviel Anstrengung kosten können.
»Ach ja?« zweifelte die Stimme. Der Druck auf die Nieren hörte auf, und ich bekam meine Arme frei. »Und warum haben Sie dann nicht ganz normal angeläutet?«
Sie halfen mir wenigstens beim Aufstehen. Beide trugen eine Krawatte, beide waren größer als ich. Verärgert klopfte ich mir den Staub ab.
»Na dann, 'tschuldigung«, sagte der andere mit einem Lächeln.
In seiner Stimme war nicht die kleinste Spur von Reue.
Er musterte mich mit Interesse: »Sie sind also der nächste?
« Ich verstand nicht: »Wie – der nächste?«
Sie wechselten einen kurzen Blick.

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