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Jiøí Kratochvil - Meine Liebe, Postmoderne

Übersetzung: Kathrin Liedke und Milka Vagadayová

Ein trauriges Spiel


          Im Frühjahr neunundvierzig hatte er an einer Flugblattaktion von Studenten teilgenommen, und gerade an dem Morgen, als man kam, um ihn zu verhaften, überschritt er irgendwo bei Mikulov die Grenze. Er setzte über nach Amerika, trat dort in die Armee ein, machte eine schnelle Karriere, aber schon im Herbst sechsundfünfzig, als die Amis in Budapest nicht eingriffen, legte er aus Protest die Uniform ab. Er wurde dann ein erfolgreicher Unternehmer, der seine alte Heimat jedoch nicht vergaß, und von Zeit zu Zeit soll er auch als Agent eingesprungen sein.
          Natürlich standen wir nicht in Verbindung mit ihm, und der Name des Onkels wurde in unserer Familie niemals ausgesprochen. Wir mussten nämlich hier leben, leben und überleben. Und um die Emigrantenstreiche unseres Onkels auszugleichen, mussten wir uns ins Zeug legen. Wir legten uns so sehr ins Zeug, dass wir es mit der Zeit auch zu einer gewissen Stellung brachten, und wir bekleideten, glaube ich, auch ziemlich bedeutende Ämter. Aber dann veränderte sich mit einem Schlag alles, und obwohl wir die Parteiausweise augenblicklich niederlegten, sah es so aus, als ob wir auch die Ämter nach und nach würden niederlegen müssen.
          Wir erwarteten ihn unter den ersten Rückkehrenden. Dann überlegten wir, dass es, wenn er sich dort eine Existenz aufgebaut hatte, eigentlich eine zweite Emigration wäre. Aber wenigstens zeigen hätte er sich doch können. Als er auch später nicht erschien, kam uns die Idee, dass wir ihn wohl nicht mehr zu erwarten brauchten. Entweder er lebte nicht mehr, oder er hatte erfahren. wie wir es hier ohne ihn geschaukelt hatten.
          Wir mieteten uns einen großen Saal im Haus der Kultur und luden Journalisten und Photographen ein. Der Onkel hatte gefärbte Haare und sprach mit anrührendem Pathos, und nach ihm ergriff einer seiner alten Mitschüler das Wort, der sich in den vierzig Jahren ziemlich weit hochgearbeitet hatte und jetzt ebenfalls Deckung brauchte. An den Wänden standen die ganze Zeit über Pfadfindermädchen in Einheitstracht und mit Blumen in den Armen.
          Ich hatte mit dem Onkel vereinbart, dass er genauso verschwinden würde, wie er aufgetaucht war, aber leider hielt er sich nicht daran. Er hängte sich an uns und fing an zu parasitieren. Ich versuchte, mit ihm zu reden, aber er wich immer irgendwie aus und tat so, als verstehe er nicht. Also beschloss ich, mich mit jemandem aus der Familie zu beraten und entschied mich für einen meiner Cousins. Ich besuchte ihn an einem jener Sommerabende, da die Sonne wie ein grinsender Wachhund über dem Villenviertel saß, aber kaum, dass er mir geöffnet und ich auch nur einen Blick auf ihn geworfen hatte, kaum, dass wir die ersten Sätze gewechselt hatten, ging mir auf einmal ein Licht auf, und ich setzte zu einem schnellen Rückzug über die Gemüsebeete an.
          Es dauerte noch einige Tage, ehe sich alles gesetzt und ich es in allen Konsequenzen verstanden hatte. Der Schauspieler, den ich angeheuert hatte, um die Rolle des Onkels zu spielen, hatte sich nicht nur an unsere Familie gehängt und parasitiert, sondern alle ihre Angehörigen gegen seine Schauspielkumpanen (aus irgendeinem provinziellen Schmierentheater) ausgetauscht. Ich hatte nicht die Absicht zu warten, bis auch ich an die Reihe kam.
          Ich lebte wohl eine gewisse Zeit in einem Hotelzimmer in einer fremden Stadt, als ich eines Nachts aufwachte und ans Fenster trat. Ich stand dort im Finstern und hob dann die Hand und berührte das, was ich so lange für mein Gesicht gehalten hatte, und schaute es mit überraschten Fingern an. Was tagsüber die Schminke verdeckte, war jetzt in der Nacht nackt und leserlich. Und so begriff ich schließlich, dass auch mich schon längst ein Schauspieler ersetzt hatte und meine ganze überstürzte Flucht nur ein Verschleierungs manöver war.
          Ich kehrte so unerwartet nach Hause zurück, dass ich den, der meinen Onkel spielt, mit der, die meine Frau spielt, antraf. Und der, der mich spielt, blieb nur einen kurzen Augenblick über ihnen stehen. Und dann verduftete ich – damit sie sich in allem Anstand ankleiden konnten – wieder auf die Straße. Auf die Straße, wo in jenem Moment der, der mein Volk spielt –
          Jawohl, wo gerade der, der mein Volk spielt –
          Aber wollen Sie das wirklich hören?

 

 


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