Deutsch / Leseproben /

Stanislav Moc - Abtrünnige Patrioten

Übersetzung: Mirko Kraetsch

1


          Mama starb zu Hause. Ein letztes Mal gab sie mir zu essen, wischte mir den Mund ab und setzte sich dann zu mir, wie sie es gewöhnlich tat, bevor sie sich übers Geschirr hermachte. „Pepíèek“, flüsterte sie und rutschte von ihrem Stuhl ein wenig zu mir hinüber, es schien sogar, als würde sie ihren Kopf auf meine Schulter legen, wodurch sie mich im Ganzen beiseite schob. Ins Gesicht konnte ich ihr nicht schauen, weil ich ihre grauen Haare vor den Augen hatte. Lange Zeit geschah gar nichts, bis mir einfiel, dass Mama eingeschlafen sein könnte. Und dann spürte ich diese Kälte. Kühl strömte sie mir ins Gesicht, aber es war nicht die Kälte der elementaren Naturkräfte, sondern die Kälte des Todes. Der Tod berührte mich durch Mama hindurch ganz unmittelbar und ich begriff, dass sie nicht schlief, sondern tot war. Nie zuvor habe ich so einen Schrecken bekommen wie in diesem Moment, obwohl es nicht schwer war mich zu erschrecken, und vor Entsetzen begann ich zu schluchzen. Laut, aber vergebens. Bìtu¹ka war nicht zu Hause und Papa legte sich nach dem Mittagessen immer hin. Im Sommer schlief er auf einem Strohsack im Holzschuppen, wo er auch seine Werkstatt hatte und den Großteil seiner Freizeit verbrachte. Im Winter streckte er sich immer auf dem Kanapee in der Küche aus, aber jetzt war Sommer. Vor Grauen kam ich ins Schwitzen und verschluckte mich an meinen eigenen Tränen, doch der Tod hauchte mir unablässig seine Kälte entgegen und versetzte meinen armen Körper durch seine Gegenwart in Angst und Schrecken. Ich, der ich mir so oft gewünscht hatte zu sterben, kämpfte jetzt mit dem Tod und lehnte mich gegen ihn auf. „Nein! Nein“, brodelte es in mir, und als es mir vor Wahnsinn fast das Herz zerriss, da erschien dieses Licht. Aus der Ecke unserer Küche sprühte blendend die Sonne hervor, so heftig und wundervoll, dass ich die Augen schließen musste. Und trotzdem konnte ich etwas sehen. Ich sah die Umrisse einer Frau in einem weißen Gewand und ihre Konturen wurden immer schärfer, wie in einem Film, bis eine wunderschöne junge Frau vor mir stand, die wie unserer Bìtu¹ka aussah, aber es war nicht Bìtu¹ka, sondern Mama, als sie jung war. Freundlich lächelte sie mir zu und flüsterte: „Pepíèek, hab keine Angst, es ist so schön hier!“
          Dann tauchte neben Mama ein Mann auf und begann mit ihr über mich zu sprechen, das weiß ich, auch wenn ich sie nicht verstand, und dieser Mann wandte sich dann an mich: „Du kannst hier bei uns bleiben oder zurückkehren, entscheide selbst.“
          „Bei euch“, schrie es in mir, aber stattdessen sagte ich: „Und was ist mit Papa?“
          Mama errötete, aber das war in dem ganzen Weiß nicht zu sehen, sie senkte nur verschämt den Kopf und flüsterte: „Das hier ist dein Vater …“
          „Wer ist mein Papa?“, stotterte ich – ohne mir klarzumachen, dass ich meine Stimme zum ersten Mal in meinem Leben hörte.
          Verwirrt schaute ich erst ihren Gefährten an und dann ungläubig wieder Mama und sie sagte eilig: „Nein, dein Papa ist er nicht … Pepíèek … das hier ist unser aller Vater …“
          In diesem Moment presste ich die Zähne in gleicher Weise zusammen, wie ich das tat, als ich jung war, wenn ich in meiner körperlichen Hilflosigkeit wütend und gekränkt war. Und kaum hatte ich das getan, da verschwand das Licht und ich war in der Küche wieder allein. Tatsächlich allein, denn das, was da quer über meinem Brustkorb lag, war nicht mehr meine Mama, sondern nur noch ihr toter Körper. Er war schwer und es tat weh, am Oberkörper spürte ich nämlich sehr wohl etwas; aber ich fürchtete mich nicht mehr. Ich wurde von zärtlichen Gefühlen überwältigt. Was kann schöner sein als ein Wesen auf seiner Brust zu haben, das man liebt, auch wenn es wehtut? Vielleicht gerade deswegen. Hinter dem Gewicht spürte ich aber noch etwas anderes, etwas, das schwerer wog als alle Holzkreuze, etwas, das auch Jesus spürte, als er seines trug, und ich begriff in diesem Moment, dass die schwerste Bürde die der Verantwortung war. Das war der Moment, in dem ich innerlich reifte. Die Fesseln der Behinderung fielen von mir ab und ich wusste, dass jeder von uns sein eigenes Kreuz je nach seinen Umständen trug, aber nur ein paar Auserwählte waren sich dessen bewusst. Doch entfliehen konnte man dem nicht. Meine Mama hat ein sehr schweres Los gehabt, und so spürte ich Verantwortung für ihren Körper und hielt ihn mit meiner schwachen Brust, so gut ich konnte, ich bekam sogar Angst, dass er vielleicht hinunterrutschen würde, denn in diesem Fall könnte ich überhaupt nichts tun. Ich versuchte meinen rechten Arm zu bewegen, doch es ging nicht. Das Gewicht des toten Körpers war zu groß. Mein linker Arm war zwar frei, aber in dem hatte ich überhaupt kein Gefühl und ich konnte ihn auch nicht bewegen. Eigentlich hatte ich ihn nur der Vollständigkeit halber, genauso wie die Beine. Wenn mich jemand auf die verwendbaren Körperteile zurechtstutzen wollte, würde von mir nur der Torso mit dem Kopf und der rechte Arm übrigbleiben. Aber auch dieser Rest war nicht ohne Mängel. Die rechte Hand konnte ich nur schwer heben und von ihren Fingern hatte ich bloß drei unter Kontrolle. Wenn ich sage „unter Kontrolle“, dann war das nicht ganz präzise, denn ich konnte sie lediglich bewegen, aber schreiben konnte ich nicht. Mama drückte mir immer einen Löffel in die Hand und ich versuchte allein zu essen, damit ich auch was tat, wie sie immer sagte. Letztendlich musste sie mich sowieso immer zu Ende füttern, damit mein Essen nicht auskühlte und damit ich nicht alles durch die Gegend warf. Im Mund hatte ich Gefühl, aber sprechen konnte ich nicht. Ich gab nur Geräusche von mir, die so ähnlich wie das Schreien eines Esels und das Meckern einer Ziege klangen. Wer mich nicht kannte, der erkannte nicht einmal, ob ich damit Ja oder Nein meinte. Kurz gesagt: Ich war ein Krüppel.

          […]

2

          […]

          „Betty“, sagte Jarda zu Bìtu¹ka, „wie wär’s, wenn wir auf ein Schlückchen ins Wirtshaus gehen?“
          Diese Anrede mochte Bìtu¹ka furchtbar gern. Sie war in sie verliebt, seit sie sie zum ersten Mal von ihm gehört hatte, doch der Vorschlag mit dem Wirtshaus kam bei ihr nicht durch.
          „Ich bitte dich, findest du das etwa passend?“
          „Warum sollte das unpassend sein? Wir sind auch nur Menschen, oder etwa nicht?“
          „Ja eben! Was sollen die Leute dazu sagen?“
          „Warum sollten denn die Leute was dazu sagen? Das ist nicht ihr Business.“
          „Vielleicht in Australien, aber hier ist das anders. Hier …“
          „Die Menschen sind überall gleich, du brauchst sie nur in Ruhe zu lassen und sie lassen auch dich in Ruhe. Pepíèek, würdest du mitgehen?“
          Dieser Vorschlag überraschte mich dermaßen, dass bei mir für einen Moment alles aussetzte. Ich bin doch immer zu Hause geblieben! Ich war noch nie in einem Wirtshaus, ich kannte das nur aus Erzählungen, und jetzt lud Jarda mich einfach so ein, als wäre überhaupt nichts dabei, als würde ich nicht im Rollstuhl sitzen. Bìtu¹ka war völlig perplex und als sie wieder zu sich kam, begann es aus ihr hervorzusprudeln: dass ich noch nie in einem Wirtshaus gewesen sei, dass das zu weit sei und dass die Batterien danach runter wären und dass jemand zu Hause sein müsste, falls Papa anriefe, und noch mehr Wörter fielen aus ihr heraus, und zwar so schnell, wir mir das Essen vom Löffel fiel. Beide hörten wir ihr staunend zu, obwohl Jardas Staunen anders war als meines.
          „Du willst mir sagen, dass er noch nie in einem Wirtshaus war? Noch niemals? Na, das ist nur ein Grund mehr für ihn mitzugehen! Und die Batterien werden nicht runter sein, weil ich ihn dort hinschiebe, schließlich ist es ja nur einen Block weiter, und für Papa hinterlass einfach eine Nachricht auf der Answering Machine, dass wir im Wirtshaus sind, und fertig!“
          „Ich weiß nicht“, stotterte Betty und drehte sich zu mir um. „Würdest du gern mitgehen, Pepíèek?“
          „Ja, ja“, rief es aus mir heraus, aber natürlich konnte ich das Ja nur meckern.
          „Na dann geht, Jungs“, sagte Bìtu¹ka und ihre Augen leuchteten kurz auf. „Es stimmt., warum sollte er nicht können? Ich bleib hier und leg mich hin, ich bin sowieso übermüdet …“
          Was ja auch stimmte. Sie hatte jetzt die Rolle von Mama übernommen und in der Nacht war sie es, die mich umlagerte. Und in dem Moment wusste ich, dass für mich eine neue Zeit angebrochen war, denn Bìtu¹ka war jung und hatte nichts von Mamas Vorsicht. Im Gegenteil: Sie hatte Jardas Aufmüpfigkeit und es fehlte ihr auch nicht sein Mut alte Vorurteile über den Haufen zu werfen.
          „Und dass du dich dort ja nicht betrinkst!“, witzelte sie. Ich meckerte ein Nein, denn auch für mich war das alles neu und eigenartig, ich hatte es noch nie erlebt selbst für meine Entscheidungen verantwortlich zu sein. Und Bìtu¹ka strich mir über den Kopf. Das machte bei mir die ganze Familie und eigentlich alle, die zu uns kamen, jeder strich mir über den Kopf oder strubbelte mir die Haare, das war so eine Geste der Begrüßung oder der Zuneigung. Ich hatte mich daran gewöhnt, aber gern mochte ich das nicht, bloß konnte ich das niemandem sagen. Manchmal war ich darüber schon ganz verzweifelt, denn im Laufe der Jahre hatten alle diese Menschen mir eine Glatze gestrubbelt und ich konnte nichts tun. Während meine vier Brüder dichtes, welliges Haar hatten, sogar auch Bìtu¹ka, war ich kahlköpfig …
          Es war heiß und Jarda schob meinen Rollstuhl den Fußweg entlang, aber er keuchte nicht dabei, denn er war stattlich und breitschultrig wie Papa. Das haben meine Brüder tatsächlich von ihm, nur ich bin eine magere und unfertige Bohnenstange. Jeden, den wir trafen, grüßte Jarda mit „Guten Tag!“ und ab und zu tippte er sich an den Hut, was ich an dem leichten Schlingern des Rollstuhls erkannte, denn in dem Moment schob er ihn nur mit einer Hand. Durch seine Kopfbedeckung hob sich Jarda von den anderen ab, denn es war ein breitkrempiger Hut aus Australien, an den er offensichtlich gewöhnt war. Alle, die wir trafen, starrten uns an und einige vergaßen vor lauter Staunen zu antworten und Jarda flüsterte mir von hinten zu: „Herrgott, was sind das nur für Leute heutzutage, die können nicht mal zurückgrüßen …“
          An der Straßenecke kam die alte Vávrová aus dem Haus und auf Jardas Gruß hin flötete sie: „Na? Wohin des Wegs, Herr Máca? Wohin des Wegs bei der Hitze?“
          „Ins Wirtshaus“, antwortete Jarda.
          Die Vávrová stutzte und sagte dann vorsichtig: „Na, ich weiß ja nicht, Herr Máca, und es geht mich auch nichts an, aber das würde wohl ihrer Mutter, gotthabsieselig, nicht allzu sehr gefallen, wenn sie sehen würde, dass sie den Pepíèek ins Wirtshaus schleppen …“
          „Da haben Sie Recht“, antwortete Jarda, „das geht sie wirklich nichts an! Und ich schleppe niemanden irgendwohin, Frau Vávrová, er ist volljährig, wissen Sie? Schönen Tag noch.“
          „Herrgott, so eine alte Hexe“, machte er sich Luft, als wir um die Ecke waren. „Wenn die einen Besen hätte, Pepíèek, würde die glatt zum Schornstein rausfliegen.“
          Ich hörte ihm mit Stolz im Herzen zu und stellte mir vor, dass auch ich so schlagfertig und stark sein würde, wenn ich normal aufgewachsen wäre. Schließlich war ich sein Bruder!

Formátuj pro tisk
Návrat na homepage