Deutsch / Leseproben /

Hana Andronikova - Herz an der Angel

Erinnerungen, die nicht wegfliegen

/Übersetzung Rolf Simmen/

Ausschnitt S. 54-61

Mit achtzehn schaffte ich mit Ach und Krach das Abitur und zog von zuhause fort. Mutter wäre beinahe durchgedreht. Seit jeher strotzte sie nur so von Organisationstalent, sie hatte bloß nicht oft Gelegenheit, es umzusetzen. So entlud sie sich an mir und dem Stiefvater. Sie hatte sich viel in den Kopf gesetzt. Für mich war alles vorgezeichnet, von der Wiege bis zum letzten Atemzug. Als ich von daheim abgehauen war, schrumpfte ihr Wirkungsfeld um die Hälfte, was für sie ein Schlag aufs Sonnengeflecht war. Ich packte meine Sachen mit dem freudigen Gefühl, ihr damit weh zu tun. Als sie anfing zu heulen, ging ich ostentativ mit meinen beiden Koffern an ihr vorbei. Die Hausschlüssel legte ich auf die Glasplatte des Tisches. Es klirrte wie zum Abschied. „So, das wär’s gewesen hier“, sagte ich. Und so war’s das gewesen. Türenknallen als Wendepunkt im Leben.

Ich zog zu einer Freundin in ihre Einzimmerwohnung und überlegte, wie weiter mit dem angebissenen Leben. Ich hatte keine Lust zu arbeiten, aber ich hatte auch keine Lust, vor Hunger zu krepieren oder auf den Strich zu gehen – das wollte ich am allerwenigsten. Solche Dinge widerten mich an. Ich war Ästhetin. Von zartem Alter an hatte ich ein ausgeprägtes künstlerisches Empfinden. Design, Interieurentwürfe, modische Exzentritäten. Das war die Welt, die mich anzog.

Die Freundin vermittelte mir Arbeit in einem Kostümverleih. Ich nahm meinen verkümmerten Mut zusammen und ging da hin. Erstaunlicherweise stellten sie mich ein. Von weitem sah es nach Vergnügen aus, aber in Wirklichkeit nähte ich meistens Knöpfe und abgerissene Kragen an. Und Geld gab’s dafür keins. Es reichte gerade für die Miete, etwas Essen und Zigaretten.

Der Verleih sah trostlos aus. Ein Warenlager. Ein unterirdischer Raum voller Staub und Chemie, mit der die Kostüme gereinigt wurden. Eingefressener Schmutz und ein sonderbarer Geruch. Düstere Reihen alter Kleider in einem Lagerraum ohne frische Luft, hier und da eine giftige Glühbirne.

Ab und zu hatte ich auch nachts Dienst, vor allem während der Ballsaison. Das war gar nichts Angenehmes. Der Hauch der muffigen Stoffe und die Einsamkeit umfingen mich. Wie in einem Verlies. Die einzige Begleitung, einzige Streicheleinheit und Ansporn war die Musik.

Es ist Nacht. Ich sitze vereinsamt zwischen Hochzeitskleidern und schwarzen Fracks, zwischen fröhlichen Masken und peinlichen Hüten, den Walkman-Kopfhörer im Ohr. Pink Floyd und Dark Side of the Moon. Zum wehmütigen Stöhnen von Gilmours Gitarre nähe ich eine abgerissene Halskrause an ein Brokatwams.

Aber die Welt ist eine einzige Überraschung; sie dreht sich wie der Wind und bringt uns jähe Veränderungen. Der Nordwind ist ein Totengräber. Die Kassette wird langsamer und leiert. Mit dem Zeigefinger drücke ich die Stopptaste. Ich bin allein. Leer und verwaist lasse ich den Blick an den Reihen mit Kostümen aus verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte entlang schweifen.

In die trübe Stille treten Schritte. Im Raum tauchen Herrenschuhe auf, die Absätze knarren auf dem Boden, kommen beherzt näher und näher, bis sie verstummen. In meine Nichtigkeit trat ein Mann.

Er lachte.
„Guten Abend“
Seine melodische Stimme durchdrang den Raum bis zu den Aufgeknüpften aus Stoff. Er mochte doppelt oder dreifach so alt sein wie ich.
„Guten Tag“, brachte ich mit Mühe hervor.
Er war groß und hager. Ein paar graue Haare, im Gesicht einen Fächer von Fältchen. Augen wie ein kleiner Junge, funkelnd und unruhig.
Er zeigte auf den Walkman und lachte von neuem.
„Was hören Sie sich da an?“
„Das – also – das sind – eigentlich – höre ich mir gar nichts an.“
„Nichts?“
Das war peinlich von mir. Meine Hände wurden feucht vor Schweiss, ich knetete mit den Fingern das verschneuzte Taschentuch.
„Weil – ähm – die Dings sind alle – ähm“
„Die Batterien?“
„Hm!“
Er schaute sich um. Mitfühlend nickte er.
„Das muss traurig sein für Sie hier, ohne menschliche Stimme. Ohne Musik.“
Ich schluckte schwer.
„Ich bringe Ihnen neue.“
Ich sprang schnell auf, der Stuhl hinter mir stürzte um. Ich schüttelte rasant den Kopf, es riss mir dabei fast die Augen aus dem Schädel.
„Nein, nein!“
Zu diesem verzweifelten Schrei machte ich eine Geste, bei der er um einen Schritt zurücktrat. Das schmutzige Taschentuch fiel mir aus den Händen.
Stutzig betrachtete er mich. Ich weiß nicht, was er sich dachte, vielleicht dass ich eine Irre bin, die man in den Lagerraum gesperrt hat, zwischen Kostümen ruhiggestellt, damit sie nicht so auffällt. In der normalen Welt, dort oben, wo er her kam, sind diese schönen Kleider völlig daneben. Genau wie ich.
„Nicht? Warum denn nicht?“
Er bückte sich nach dem zerknüllte Taschentuch. Er reichte es mir. Er musste sehen, wie ich in Verlegenheit schmorte. Ich erstickte an der eigenen Zunge.
„Ich habe nämlich – ich hab dafür – ich hab kein Geld!“
Es waren noch zwei Tage bis zum Zahltag. Das letzte Zehnkronenstück, das ich in der Tasche hatte, war nicht meins. Ich ertrank in Schulden.

Er hieß Jiri Vranovsky. Er war gekommen, um etwas Fröhliches für eine private Archäologen-Feier auszuleihen. Als er sich mir vorstellte, lachte ich steif. Selbstverständlich hatte ich noch nie von ihm gehört. Erst später fand ich heraus, dass er in seiner Branche schon etwas bedeutet hatte, bevor ich überhaupt geboren wurde. Jetzt war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er war auf der ganzen Welt rumgereist, veröffentlichte Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften, schrieb Bücher. Seinen Namen kannten Experten im In- und Ausland. Er hätte mein Vater sein können, vielleicht auch mein Großvater. Augen wie ein Junge, wie ein Strolch.
Anders als die Jungs meines Alters zog er keine Nummer ab. Er war zuvorkommend und galant. Anders als die Jungs meines Alters hatte er Geld. Er kaufte mir Batterien für den Walkman.
Dann brachte er das Kostüm zurück und lud mich zum Mittagessen ein. Unser erstes Rendez-vous glich dem Gespräch eines bedachtsamen Vaters mit seiner zurückgebliebenen Tochter. Ich konnte keinen zusammenhängenden Satz zusammenbasteln, starrte ihn bloß fasziniert an. Und er schaute weiß Gott warum fasziniert mich an. Ich verliebte mich kopflos.
Als er mich das erste Mal mit zu sich in die Wohnung nahm, kam ich mir wie im Museum vor, und gleichzeitig wie im Bücherlager. Auf jedem Regalbrett, auf jedem Zentimeter stand ein Buch oder eine Lehmscherbe, ein Knochensplitter, ein Stück Keramik, an den Wänden Karten, Bilder, ein Tomahawk. Der Schreibtisch bedeckt mit Bergen von Fotos, Skizzen, Notizen und noch mehr Büchern. Jiri war Spezialist für vorkolumbianische Indianer. Und die Indianer interessierten ihn alle – von Alaska bis Patagonien.
Im Arbeitszimmer hing eine grosse schwarzweiße Fotografie. Darauf die Gestalt einer schwangeren Indianerin im Profil. Jung und barfuß, in den traditionellen Kleidern ihres Stamms, mit einem riesigen runden Bauch, wie sie vor einem polierten Chevrolet steht. Das Auto des weißen Mannes als Symbol der Stärke. Der Zusammenstoß zweier Welten: die einheimische – rund und zerbrechlich, die fremde – eckig und machtvoll.
Das war ein schönes Foto, ergreifend und wirkungsvoll. Es brachte Jiris Weltsicht auf den Punkt.
Dann bemerkte ich kleine Details. Ein Parfümflakon über dem Waschbecken, Haarspangen, rosa Pantoffeln im Vorzimmer. Er sagte mir, er sei geschieden, aber es war offensichtlich, dass er kein Eremit war. Beim nächsten Besuch hatte er aufgeräumt, keine Spur mehr von Flakons und Spangen.

Mutter rief an. Sie hinterließ die Nachricht, ich soll zuhause anrufen.
Was will sie wieder? Schrecklich ungern sprach ich mit ihr. Unsere Gespräche begannen jedesmal mit einer Flut von Vorwürfen, warum ich sie nie anrief.
Aber jetzt ruf ich dich doch gerade an, Mutter, also was willst du?
Immer wollte sie etwas von mir. Oft überlegte ich, warum mir meine eigene Mutter so fremd war, warum sie mir so weit weg und unerwünscht vorkam. Das bekümmerte mich oft, ich war neidisch auf meine Mitschülerinnen, die ihre Mutter zur Freundin hatten, denen fuchtelte sie nicht immer mit einer beleidigten Soll-und-Haben-Liste vor der Nase rum. Meine Mutter machte sogar mit Zuneigungsbezeugungen Geschäfte. Auch Liebe teilte sie nur nach Verdienst zu. Sie handelte mit Gefühlen, wie wenn das abgetragene Kleidungsstücke wären. Dieser Schal meiner Zuneigung ist viel zu lang für deinen dürren Hals!
Am meisten fürchtete ich mich, einmal so zu werden wie sie. Davor hatte ich echt panische Angst.

„Hallo Mutter, was ist los?“
„Dass du dich auch mal wieder meldest! Kannst du dir nicht mal mehr das Telefon leisten? Komm am Sonntag zum Mittagessen!“
„Also ich weiß nicht, ob ich Zeit habe.“
„Dann nimmst du sie dir halt einfach, nicht wahr? Ich erwarte dich um zwölf.“

Klar. Sie lud mich zum Mittagessen ein. Ihr Essen hätte man ja überleben können, sie war eigentlich eine ganz ordentliche Köchin. Aber sie wollte immer irgendeine Gegenleistung. Hast du dich satt gegessen? Dann mäh mir jetzt den Rasen. Oder du könntest mir helfen, die Beete zu jäten.
Das hasste ich.
Als ich diesmal durch die Türe trat, fiel ich beinahe in Ohnmacht. Statt dem Rasenmäher erwartete mich etwas viel Lustigeres. Ein Bild zum Platzen. Der Küchentisch bog sich unter einer Flut von Gürkchen und Einmachgläsern; die Gurken schwammen in Kübeln, in Becken, kleinen Wannen. Wohin mein Blick auch fiel, überall Gurkengrün. Mittendrin meine Mutter mit Gummihandschuhen.
„Hallo Leni. Komm rein. Hilfst du mir beim Gurkenputzen? Zu zweit haben wir das ruck-zuck fertig.
Mir wurde dunkelgrün vor den Augen. Da hätte sie mich lieber gleich totgeschlagen, wenn sie schon diese Handschuhe trug.
„Nimm dir einen Stuhl. Dann können wir noch plaudern, bevor Vater kommt.“
Vater nannte sie meinen Stiefvater. Und plaudern, das hieß, dass sie mir einen Vortrag darüber halten würde, dass etwas mit mir nicht in Ordnung ist.
Es gefiel ihr nicht, wie ich mich anziehe. Es gefiel ihr nicht, wie ich meine Haare trage, wie ich meine Nägel schneide. Um Himmels willen, was hast du da für ein Parfüm gekauft? Sie konnte meine Kolleginnen nicht ausstehen, griff meine Freunde an. Mit wem hast du Umgang, Mädel? Das sind ja Individuen, deine Bekanntschaften. Es störte sie auch, wie ich mich benahm, wie ich spreche, dass ich rauche. Du trinkst zuviel, das ist ungesund. Mädel, mach was aus dir. Sie warf mir vor, demVater ähnlich zu sein, also dem biologischen. Du bist zu stolz, Mädel, und das bringt nichts Gutes. Es gefiel ihr nicht, wo ich arbeite. Garderobiere bist du! Du solltest an die Hochschule, ohne die bist du eine Null, ein Niemand! Es gefiel ihr nicht, wie ich wohne, wie ich lebe. Eigentlich gefiel ihr gar nichts an mir. Sie konnte mich nicht ertragen. Sie hätte eine andere Tochter gewollt, eine brave Puppe, geschniegelt und strebsam, sie hätte eine ergebene Musterschülerin zum Rumdirigieren gewollt.
„Mir ist zugetragen worden, dass du mit jemand ein Verhältnis hast!“
„Mutter, bitte, fang gar nicht an damit.“
„Nun, wer ist es?“
„Niemand.“
„Ich weiß, wer es ist! Ich habs schon rausgekriegt. Ich weiß genau, mit wem du dich herumtreibst!“
Meine Mutter war ein Sherlock Holmes im Rock. Ich zweifelte nicht, dass sie ausgekundschaftet hatte, mit wem ich rumhänge, wie sie so emphatisch sagte.
„Lass mich in Ruhe, Mutter, ja? Steck deine Nase da nicht rein!“
„Das meinst du doch nicht ernst! Der ist ja älter als ich! Schlag ihn dir aus dem Kopf, ich meine es gut mit dir. Du machst dein Leben kaputt!“
„Du machst mein Leben kaputt! Du lässt mich nicht leben! Gibst mir keine Ruhe! Wer soll so was aushalten, dein ewiges Herumhacken!“
Da platzte der Stiefvater in unser Kaffeekränzchen. Bestürzt starrte er mich an, Mutter meckerte etwas von Verantwortung und großen Lebenstragödien, und ich packte für einen Abgang. Das trieb sie zur Unzurechnungsfähigkeit.
„Wo gehst du hin? Komm zurück! Was meinst du, für wen ich den Spinat da gekocht habe?“ Ich blieb nicht mal stehen. Damit brach ich ihr das Herz.
„Was fang ich jetzt bloß mit den Gurken an?“
Ich schloss die Tür hinter mir und versprach mir selbst, da niemals mehr einzutreten.
Am Abend rief sie mich an. Sie machte mit abwechselnd Vorwürfe, weinte und keifte. Nach zwei Tagen klemmte mein Anrufbeantworter, den sie mit Katastrofenszenarien, herzzerreißenden Bitten und zuletzt auch mit Drohbotschaften überschwemmt hatte.
Eine Woche später packte ich meine Sachen und zog zu Jiri.

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