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Radka Denemarková - Und ich frag immer, wer das schlägt

Übersetzung: Eva Profousová

          „Ich will wissen, was dein Vater, der Mann mit dem Namen Ralf, im Krieg gemacht hat.“
          Petr Buch schlug zu. Noch einmal. Ohne Mitleid. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb versuchte sie ihr Gesicht zu schützen, ihre zierlichen Ellenbogen bohrten sich spitz in seine Brust. Da warf er sie aber schon auf den Tisch. Eine Tasse zersprang und der Tee ergoss sich auf die Tischplatte, gleichgültig tropfte er von der hölzernen Kante. Buch spürte seine Macht. Und seine Kraft. Das war berauschend. Er presste sie an die Tischplatte, schob ihren Plisseerock hoch, schlug die weiße Ziehharmonika über ihre Brust, der Stoff reichte ihr gerade bis zum Kinn. Sie lag wie unter einer Guillotine, den Kopf abgetrennt vom Rest des Körpers, der nicht mehr der ihre war. Das, was sich zwischen ihren Beinen abspielte, hatte mit ihr nichts zu tun, der Schmerz war fremd. Sie wollte schreien, doch der Schreck ließ sie keinen Ton herausbringen, die gemeinsam verbrachten Monate hüllten sie in eine Watte flüchtiger Zärtlichkeit. Buch drückte sie jetzt fest gegen das raue Holz. Stoßweise schob er sie immer weiter nach vorne, Holzsplitter bohrten sich ihr in die Hinterbacken und in den Rücken, ihr Kopf schlug gegen die Tischplatte. Er drang in sie ein, mit einer Hand knetete er ihren Mund und ihre Wangen, weidete sich an den entstellten Grimassen ihres kleinen Gesichts und des verschmierten Streifens in seiner Mitte, wie ein unsichtbarer Reißverschluss ging der angerissene Mundwinkel weiter auf, der symmetrisch geschwungene Liebreiz ihrer Lippen veränderte sich in eine blutige Fratze, in eine tiefe, verschmierte Wunde.
          „Willst du immer noch wissen, was mein Vater im Krieg gemacht hat? Willst du immer noch wissen, was mein Vater im Krieg gemacht hat? Vielleicht gerade das, vielleicht gerade das.“
          Ein heftiges, beinah blendendes Licht schlug wie aus einem Hinterhalt in die Dunkelheit ein. Die Schlussakkorde der Begleitmusik brandeten auf. Krásová – die von Klamová mal mit dem Versprechen einer neuen Rolle besänftigt werden musste, mal mit der Erzählung von den Konflikten und Missverständnissen, aus denen die Zusammenarbeit mit außerordentlichen Persönlichkeiten fast immer bestehe – Krásová wartete zusammen mit Oujezdský gespannt darauf, wie ihr (zumindest in ihren Augen) gelungenes Pas de deux aufgenommen werden wird. Ein Pas de deux, das von Buch allerdings gar nicht wahrgenommen wurde.
          Schwer atmend hielt sich Buch krampfhaft an dem improvisierten Tisch in der Mitte des Zuschauerraums fest, die Lampe mit dem grünen Schirm hatte er längst ausgemacht.
          „Sehr beeindruckend. Merkt euch die Reihenfolge der Tanzbewegungen“, brach Klamová das Schweigen. „Und keine Blödeleien, Jiøí, alles muss bloße Andeutung bleiben. Damit ihr euch auch nicht wehtut.“
          „Ja, vielleicht sollte ich mit der Hand so machen, du verstehst, was ich meine, Jiøí. Damit ich dir nicht in die Quere komme, da könnte ich mich schon verletzen, weil...“
          Da regte sich Buch. Langsam richtete er sich auf, ein riesiger Krake, der plötzlich in Bewegung geriet.
          „Ich muss an die frische Luft.“
          Überrascht machte ihm Klamová den Weg zwischen den Sitzreihen frei. Schrittweise wich sie vor ihm zurück, erst die kühle Wand brachte sie zum Stehen. Und Buchs ständige, an Unverschämtheit grenzende Geistesabwesenheit. Noch hatte sie aber nicht aufgegeben, mit letzter Kraft wollte sie ihm die Ursache seines Unmuts entreißen. Schon wegen der erstaunten Schauspieler, die diesmal eine konzentrierte Arbeit hingelegt hatten, schon ihrer selbst wegen. Die diplomatischen Gespräche mit Krásová wollte sie nun wirklich nicht noch einmal absolvieren müssen.
          „Aber Sie haben das doch so gewollt?!“
          „Ja, das war genau richtig.“

Ein kleines Schrittchen, dann der nächste Schritt,
Bald bin ich ein Jahr alt,
wenn es fünf von diesen Jahren gibt,
hat mich die ganze Welt schmutzig gemacht.


          Als Kind hatte Birgit nie begreifen können, warum sich ihr die Mutter immer so grimmig entzog, warum sie jedes Mal panisch reagierte, wenn Birgit nur das Wort an sie richtete oder mit ihr zärtlich sein wollte. Sie ahnte nicht, dass sie für ihre Mutter einem Holzsplitter glich, einem Holzsplitter, der für immer in ihrem Fleisch stecken geblieben war und den sie ihr ganzes Leben nicht mehr loswerden sollte. Einem Holzsplitter, der ihr ins Hirn eingedrungen war und vom Augapfel bis ins Herz reichte. Einem Holzsplitter, der sie am freien Atmen hinderte, daran, endlich Luft für ein normales Leben zu holen. Einem Holzsplitter der Scham und der Schmach. Dann heiratete Mutter und lebte auf, das Leben einer beringten Frau half ihr zumindest teilweise, die Erniedrigung zu vergessen. Ganz vergessen konnte sie nicht, die damals zehnjährige Birgit flimmerte ihr ununterbrochen vor den Augen.
          Der Stiefvater war ein Bauingenieur, sie lernten sich bei Verhandlungen kennen, bei denen Mutter für die ausländischen – das heißt – sowjetischen Gäste dolmetschte: Für jene Lieferanten, Techniker und Architekten, die an dem geplanten megalomanischen Projekt der Prager Metro schmarotzend teilhaben wollten. Er sah eine stille, beinah scheue Frau vor sich, die professionelle Arbeit leistete und sofort nach Beendigung des offiziellen Teils verschwunden war. Sich wie Morgennebel auflöste. Er selbst war schüchtern und nahm daher an, dass sie aus dem gleichen Grund verschwand, aus welchem auch er immer Reißaus nahm. Nachträglich erinnerte er sich, wie fasziniert er von ihrem Lächeln und den ungewohnt geschwungenen Lippen war, die sich jedes Mal sanft kräuselten, sobald sie zu sprechen begann. Er hatte nicht ahnen können, daß er eines Tages zu Hause eine ganz andere Frau vorfinden sollte. Eine Fremde. Daß die gekräuselten Lippen zum Abwasserkanal geworden sein, sich in eine Klobrille verwandelt haben sollten. Herunterspülen sollte nicht möglich sein, alles sollte hängen bleiben, die von den gekräuselten Lippen ausgeworfenen Abwässer sollten sich zu Worten formen, die keiner Kommunikation dienten, sondern allein dazu da waren, andere zu besudeln und zu beschmutzen. Einmal hatte sich die siebzehnjährige Birgit ihnen in den Weg gestellt, machtlos hatte sie die Wortkanonade mit Gekreische zu überbieten versucht. Daran kann er sich noch gut erinnern, sie muss damals siebzehn gewesen sein. In seinem Planungsbüro, in den Straßen Prags, sogar in jeder Schlagzeile hörte man damals den energievollen, ereignisreichen Frühling rauschen. Seine fröhlich aufgeregte Stimmung verflüchtigte sich, je näher er dem Haus kam. Langsam stieg er eine Stufe nach der anderen hinauf, seine Schritte wurden immer schwerer, als ob bleierne Gewichte an seinen Füßen zögen. Bis hierher war kein Frühling durchgedrungen. Hier fand ein permanenter kräftezehrender Krieg statt.
          „Du redest gar nicht, du redest nicht, dir quillt nur Scheiße aus dem Mund heraus. Du willst, dass ich stinke. Du bewirfst mich mit Dreck und vergisst sofort, was du gesagt hast, aber ich ersticke darin und werde es nicht mehr los.“
          „Was meinst du denn, was du bist? Hältst dich wohl für was besonderes, was? Wo willst du überhaupt hin? Du blöde beschissene Kuh.“
          Damals hatte Birgit eine kleine Pause eingelegt und mit einer unnatürlich ruhigen Stimme, mit tiefem Brustton gesagt: „Du hast Recht, ich lass es mit dem Abi und geh Klos putzen, das ist die richtige Arbeit für mich. Scheiße mit Scheiße verrühren.“
          Mutter war allerdings auf keinen bloßen Gesprächspartner aus, sie brauchte einen Zuhörer. Einen zermürbten Zuhörer für ihre endlosen, stundenlangen Monologe, die wie ein Schleier aus Gestank hinter ihr her wehten, und die genauso plötzlich aufhörten, wie sie unerwartet angefangen hatten. Gespräche, von denen sie am nächsten Tag nichts mehr wusste. Und die sie erneut anfing. Mit neuer unverbrauchter Kraft.
          Der Stiefvater hat zwei Frauen geheiratet, die kaum etwas miteinander gemein hatten. Wie viel wusste wohl die eine von der anderen? Der einen begegnete er draußen, in der äußeren Welt; in der Öffentlichkeit sonnte er sich in den Strahlen eines vorgetäuschten, friedlichen Zusammenlebens. Die andere wurde wach, sobald die Wohnungstür hinter ihnen zugefallen war: dann übernahm sie die Führung. Am Anfang hatte ihn der auffällige Kontrast zwischen ihren Ausdrucksweisen fasziniert. Die Offizielle drückte sich betont schriftsprachig und gewählt aus. Diese Frau war gebildet und bediente sich einer feinen Ironie. Die zweite war eine Kanaille, sie lebte in der Gosse und jegliche Selbstreflexion war ihr fremd. Aber er hoffte, log sich in die Tasche, schwindelte sich vor, dass dieses Benehmen, mit dem sie die anderen quälte, auch für sie zerstörerische und sie selbst verstümmelnde Folgen haben würde. Er wich aus und schlug Haken, er versuchte sich einzureden, dass er ein weiser Schlichter sei, der das Schlimmste zu verhindern wisse, und er berief sich auf die seltenen Momente von Mutters guter Laune. „Ihr seht doch, Marie ist gar nicht so böse, sie hat euch lieb, sie ist nur überarbeitet, hat viel zu viel zu tun, wir haben auch schöne Momente gehabt, wir alle zusammen.“
          Eine direkte Auseinandersetzung wagte er nicht. Mit Verwunderung hätte er wohl zur Kenntnis genommen, was die heranwachsende Birgit von ihm dachte. Dass er ein ängstlicher Feigling sei. Noch mehr hätte ihn aber überrascht, hätte er die Meinung der gealterten Birgit erfahren. Dass er ein wirklich weiser und auf seine Art tapferer Mensch gewesen sei, der dem Boot ihres Lebens die richtige Balance gegeben habe. Sonst wäre es schon damals umgeschlagen und auf Grund gegangen.
          Ohne dass es jemand aufgefallen wäre.
          Zwei Jahre nach der Hochzeit kam Johanna zur Welt, und für den Stiefvater gab es kein Entkommen mehr.
          So wuchsen zwei Schwestern nebeneinander auf. Die fahrige, schlaksige und unleserliche Vergangenheit, der sich Mutter gerne entledigt hätte, deren Fremdheit sie absichtlich noch durch die böse und harte Namensgebung unterstrichen hatte. Und die ausgeglichene, anschmiegsame, zierliche und freundliche Zukunft, an die sich Mutter noch fester klammerte. Trotz all ihrer sichtbaren und raffinierten Bemühungen konnte sie nicht verhindern, dass sich ihre beiden Töchter wie Lianen ineinander flochten, dass sie fest zusammen wuchsen und für immer miteinander verbunden blieben.

Weiße Tauben flogen aus dem Felsenspalt, Felsenspalt,
weckten böse Geister aus dem Schlaf,
weckten schlimme Geister aus dem Schlaf.

 

 


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