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Pøemysl Rut - In Mutti seinem Bettchen
Übersetzung - Christina Frankenberg
Vatersprache
"Ein Engelchen …" Gerührt schaute Vati ins Kinderbett. „Das
Leben hat er noch vor sich. Was es ihm wohl bringen mag?"
"Morgen ist Samstag, morgens fährst du mit ihm spazieren."
"Ich?"
"Wer sonst? Ich muss …“ Und Mutti begann aufzuzählen, was sie
morgen Vormittag alles erledigen müsse, bis Vati schließlich nicht
mehr zuhörte. „Und – machst du das für mich?", schreckte sie ihn
schließlich auf.
Mit dem gerührt Sein war es vorbei. Er überlegte, was sich jetzt
alles ändern würde und wie die Veränderungen seine Seele treffen
würden, die mit zunehmenden Alter schon so tief geworden war,
dass Seerosen auf ihr blühen könnten. Reichte es, wenn er den
Aschenbecher mit aufs Klo nahm? Oder würde er auch die Proben
in seinem Männerchor aufgeben müssen, ohne die er sich die
Montagabende gar nicht mehr vorstellen konnte? Müsste er seinen
Beruf wechseln, um ein weiteres hungriges Maul stopfen zu
können? Die ruhige Oberfläche seiner Seele kräuselte sich
bedenklich, so als würde sie aus Vati herausschwappen und eine
Leere zurücklassen, in der sich auf ewig das Echo von Muttis
Forderungen und von Kindergeschrei ausbreiten würde.
„Du wirst dir keinen Zacken aus der Krone brechen, … du kannst
deinen Gedanken nachhängen, er wird schlafen, ich stille ihn
vorher", hörte Vati wie aus weiter Ferne.
"Kann er denn nicht hier schlafen?" Er drehte sich nach der Stimme
um.
„Er braucht frische Luft“.
„Nächsten Samstag ließe sich das schon einrichten.“ Vati wollte
wenigstens den morgigen Tag retten.
“Bitte sei leise! Jetzt hast du ihn aufgeweckt. – Na komm schon, na
klar bekommst du deine Milch“, jetzt flüsterte Mutti nicht mehr,
sondern begann zu säuseln. Sie hob das Neugeborene aus seinem
Bettchen und stellte sich so hin, dass Vati ihnen im Wege war. Als
er sah, wie sie voller Konzentration erst die rechte und dann die
linke Brust in der Hand wog, um zu entscheiden, mit welcher sie zu
stillen beginnen würde, legte er sich zu Bett wie ein überflüssiger
Mensch. Einschlafen konnte er erst gegen Morgen. Kurz danach
rissen ihn Anweisungen aus dem Schlaf, um wie viel Uhr der
Kleine trinken solle, wann die Windeln zu wechseln seien, bei
welchen Wetter man ihn zudecken müsse, welche Straßen man
unbedingt meiden solle, wohin nin bim bam bom omm bum
damm… „Hörst du überhaupt zu?“
‚Nein, mach ich nicht,. gestand er sich trotzig ein. ‚Deine Sorgen
möchte ich haben. Erzähl, was du willst, ich versteh sowieso kein
Wort.. Vati biss die Zähne zusammen, so als würde er sich von
innen die Ohren zuhalten, schlürfte seinen Kaffee, zog sich an und
übernahm den Kinderwagen mit dem Baby. Er fühlte nur Wut.
Hätte Mutti sich vorstellen können, wie riesig diese war – niemals
hätte sie ihm das Kind anvertraut. „Jetzt habe ich, was ich wollte!
War es das wert? Ein kurzer Moment voller Glück – und das ganze
Leben ist im Arsch! Was machst du denn für Grimassen?“ Er
betrachtete den Sohn. „Wenn du wenigstens sprechen könntest,
dann wäre es nicht so langweilig mit dir! Warum kann man uns
nicht erst auf deiner Hochzeit bekannt machen? Dann wirst du
väterlichen Rat gebrauchen können. Jetzt kann ich dir nicht helfen,
du hältst mich nur ab! Aber wovon eigentlich? Verdammt noch
mal! Was wollte ich denn? Warum kann ich mich nicht erinnern?“
Hilflos schaute sich Vati im Park um.
Damals sind sich unsere Blicke begegnet. An diesem
Samstagvormittag saß ich an meinem Tisch an der geöffneten Tür
und hielt Ausschau nach einem Einfall. Plötzlich sah ich, wie Vati
stehen blieb, so wie ein Hund, der Witterung aufnimmt. Seine
zusammengekniffenen Augen waren auf mich gerichtet. (Sehen
konnte er mich nicht, draußen war gleißender Sonnenschein und in
dem Lokal brannte keine einzige Glühbirne.) Dann fasste er einen
Entschluss: auf Zehenspitzen, so als käme er direkt aus dem
Schlafzimmer und wollte seine Frau nicht wecken, schob er den
Kinderwagen in den Raum mit der niedrigen, rauchgeschwärzten
Decke.
Ich habe so meine Tricks, wie ich mich vor unerwünschter
Gesellschaft schütze. Ich weiß, wie ich meine Sachen auf dem
Tisch anordnen muss, damit jedem klar wird, dass hier kein Platz
mehr ist. Ich kann eine solche Miene ziehen, dass niemand es wagt
mich anzusprechen. Mit Vati versuchte ich das auch (womit ich
zugebe, dass ich ihn nicht gleich als den Einfall erkannte, auf den
ich so lange gewartet hatte), er aber ließ sich nicht beeindrucken.
„Hier ist wohl frei?“, flüsterte er. Während er ängstlich in die
Kissen schaute, schob er den Kinderwagen ganz nah an den Tisch
und setzte sich – aber ohne mit dem Stuhl über den Fliesenboden zu
schurren. Dann erst bemerkte er mein Notizbuch, den Kalender, das
aufgeschlagene Buch, die Zigaretten – und schaufelte sich
skrupellos mit Händen und Unterarmen ein freies Gehege. Gerade
kam der Kellner vorbei, Vati hob den Zeigefinger (und legte ihn
sogleich an die Lippen), und schon wurde ein Bier in sein Revier
herabgelassen, leise wie die Sonne, die im Teich versinkt.
“Ein Engelchen …“ Der Kellner beugte sich über den
Kinderwagen. „Ein Junge, nicht wahr?“ Er wartete nicht auf die
Antwort, so als wäre diese überflüssig, und ging weiter an den
nächsten Tisch.
“Wie heißt er?“, fragte ich statt eines Grußes.
„Milan.“
Vati nahm einen tiefen Schluck, schwenkte den Griff seines Glases
und zusammen mit dem Bier sog er alles in sich auf, was das
Wirtshaus zu bieten hatte: den Brandfleck im Tischtuch, das Salz-
Pfeffer-Gemisch auf dem Tellerchen vor uns, die Fliegen, die um
die Lampe kreisten, die volkstümlichen Sprichwörter auf dem
Bierdeckel („Hunger ist getarnter Durst“) und an der Wand („Lieber
ein warmes Bier als eine kühle Deutsche“, stand dort in
Frakturschrift.), den alten Mar¹ík, in dessen Bier sich wie eine
Krake giftiges Grün ausbreitete, das vergessene Jackett am
Wandhaken, die Klotür, die sich nicht schließen ließ, den
Sektkorken, der unter die Sitzbank gekullert war – all das verfolgte
er mit diesem Blick, mit dem wir die Landschaft unserer Kindheit
zu liebkosen pflegen, und aus seinem Inneren (das kann ich
beschwören) erklang eine Geige. Da plötzlich wusste ich, dass mir
Vati direkt vom Himmel geschickt worden war und wortlos gab ich
dem Kellner ein Zeichen, dass er Vatis Biere auf meine Rechnung
setzen solle. Vati bemerkte das nicht. Erst als der Kellner den
Aschenbecher von unserem Tisch nahm, schien er aus seinem
Traum zu erwachen: „Was denn, ist schon Mittag?“
“Die Zeit vergeht hier wie im Flug“, sagte ich, während ich meine
Geldbörse aus der Tasche fischte. “Lassen Sie es gut sein, wir sehen
uns doch nicht zum letzten Mal.“
“Treffe ich Sie am Samstag hier wieder?“
“Ich bin jeden Tag hier.“
“Ich nehme Sie beim Wort. Nächstes Mal bezahl ich.“ Er erhob sich
und eilte davon. Ich musste ihn zurückrufen, sonst wäre er ohne den
Kinderwagen gegangen.
„Ihr habt den Ausflug genossen, nicht wahr Jungs“, wurden sie von
Mutti begrüßt. Vati musste den Satz mehrmals im Geist
wiederholen, bevor ihm klar wurde, dass dies ein Lob sein sollte.
Das schlechte Gewissen hatte sein Gehör angegriffen.
“Na siehst du, wie schnell du dich daran gewöhnt hast.“ Mutti
lächelte ihn an.
“Man gewöhnt sich an alles.“ Vati blieb bei seinem brummigen
Tonfall, um keinen Verdacht zu erregen.
“Du hast für dich einen Sinn darin gefunden.“ Sie wusste nicht, was
sie da sagte.
“Man kommt auf andere Gedanken.“ Er log nicht einmal.
“Es wurde auch höchste Zeit. Du hast das noch nötiger als der
Kleine.“ Mutti beugte sich in den Kinderwagen.
“Er riecht nach Rauch.“
Vati blieb das Herz stehen. „Diese Stadt!“, improvisierte er. „Bevor
man aus dem Grünen nach Hause kommt, muss man an so vielen
Schornsteinen, Auspuffen und Rauchern vorbei. Als wäre man nie
im Grünen gewesen! Das sagst du doch selber.“
“Und du wolltest mir nie glauben.“
Der Kleine öffnete den Mund und suchte nach der Brust.
“Guck doch mal, Vati, wie hungrig wir sind! Das kommt von der
frischen Luft! Das muss dich doch auch freuen. Glaubst du etwa, er
hätte einen solchen Appetit, wenn ihr die ganze Zeit in der Stube
gehockt hättet?“
Vati gab zu, dass sie Recht hatte.
“Morgen ist Sonntag, da könnt ihr gleich wieder los. Der
Wetterbericht ist gut.“
“Selbst wenn nicht“, übertraf Vati sich selbst, „wir sind doch nicht
aus Zucker!“
“Also, Vati, ich erkenn dich nicht wieder!“, flüsterte Mutti über das
rosa Köpfchen hinweg, das an ihrer Brust schmatzte.
Als Vati mir das erzählte, musste ich lächeln. Durch diese
Geschichte schlossen wir Freundschaft. Jeden Samstag und jeden
Sonntag trafen wir uns im Lokal „Zum Fass“, sprachen über alles
mögliche, vor allem über die Frauen. Er klagte nicht, nein, er hatte
auch keinen Grund. Seine Frau liebte ihn wohl wirklich, wo er doch
ein so vorbildlicher Vater war.
Ohne den Kleinen hätten wir gar nicht bemerkt, dass ein Jahr
vergangen war. Eines Sonntags aber kam Vati ohne Kinderwagen
und führte den Kleinen an der Hand.
“Du läufst ja schon!“, begrüßte ich ihn. Er hob den Kopf zu mir,
sein Händchen rutschte aus Vatis Hand, seine Schuhchen stolperten
über die Schwelle, der Junge fiel hin und begann zu weinen.
“Steh auf, es ist ja nichts passiert! Du willst ein Junge sein? Zeig
her, komm wir pusten.“ Vati stellte ihn wieder auf die Beine.
“Hör auf zu weinen“, tröstete ich ihn. Ich fühlte mich mitschuldig
an seinen Tränen. „Ich kauf dir was Schönes. Hier gibt es Eis!“
“Vorsicht!“ Vati verzog das Gesicht. „So langsam beginnt er zu
sprechen.“
“So früh schon? Da können Sie aber stolz sein.“
“Ich mache mir eher Sorgen.“ Vati setzte sich zu mir. „So lange er
nicht sprechen konnte, hat er mich zu Hause nicht verraten. Jetzt
sollte ich mein Doppelleben wohl beenden. Ich fürchte, ich bin zum
letzten Mal hier.“
“Hören Sie auf rumzuunken“, erschrak ich. Vom Herzen her
breitete sich die Angst in mir aus, dass mein guter Einfall mich
verlassen könnte und ich wieder allein wäre mit den unpassenden
Worten, die sich von den Dingen ablösten, mit denen ich sie
verband, und dass die Dinge wieder unbenannt und unverständlich
würden.
„Verstehen Sie doch, ich bin in einer fatalen Situation“, erklärte
Vati. „Früher oder später wird er fragen, wo wir hier sind und dann
wird er die Antwort meiner Frau erzählen. Wenn es ein einmaliger
Fehltritt wäre, könnte ich noch hoffen, dass sie vielleicht ein Auge
zudrücken wird. Aber Sie wissen ja selbst, dass ich ein ganzes Jahr
lang hierher gekommen bin, Woche für Woche, jeden Samstag und
jeden Sonntag! Einhundert Tage! Das würde sie mir nie verzeihen!
Es ist sowieso ein Wunder, dass es noch nicht rausgekommen ist.“
“Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte ich eher mich als ihn,
„der Kleine kann ja nicht mehr verraten als Sie ihm sagen.“
“Und was soll ich ihm sagen, wenn er mit seinen Patschehändchen
auf das Bierglas zeigt und fragt, was das ist?“
“Wenn sie einen Rat annehmen wollen, dann sagen Sie ihm, dass
das ein Gallentäubling ist.“
“Ein Gallentäubling?“
“Der Pilz, Gallentäubling. In manchen Gegenden Bitterling
genannt.“
„Und warum gerade …“
“Oder Eichhörnchen, wie Sie wollen. Aber dann müssen Sie dabei
bleiben. Kinder haben ein gefährlich gutes Gedächtnis.“
“Das kann ich nicht.“
“Aber Sie machen es doch schon! Sie haben doch selbst erwähnt,
dass Ihre Frau sich alles auf ihre Weise und ganz anders erklärt, als
Sie es gewohnt waren. Und dass es Monate gedauert hat, bis Sie
gelernt haben, so zu reden, dass sie es versteht.“
“Aber …“
“Kein Aber! Entweder – oder! Jetzt entscheidet sich Ihre Zukunft!
Trinken Sie einen drauf!“
Kaum hatte ich ausgesprochen, schon standen zwei Gläser mit
Becherovka vor uns.
“Was ist das?“, kam es vom anderen Tischende.
Vati erbleichte.
“Worte sind wie Etiketten auf Einmachgläsern. Sie können sie
vertauschen, ganz wie Sie wollen“, erinnerte ich ihn.
Der Junge richtete seine Kulleraugen auf die golden schimmernden
Schnapsgläser und wiederholte seine Frage.
“Das sind … das sind Schwalben“, beschloss Vati. Dann schwieg er
eine Weile, so als würde er lauschen, wie seine Welt in Schutt und
Asche fällt.
Es war aber ganz ruhig, nur der Junge lispelte unberührt:
„Swabben.“
Die Kinderhändchen reckten sich zu den Schnapsgläsern hin, unsere
Hände waren aber schneller. „Jetzt hast du sie aufgeschreckt“,
erklärte ich dem Kleinen. Wir stießen an und tranken den
Kräuterschnaps schnell aus.
“Ahhh!“, seufzte Vati voller Wohlgefühl.
“Flatter, flatter!“, musste ich ihn korrigieren. „Sie sind in wärmere
Gegenden geflogen!“
“Das ist schon komisch“, flüsterte mir Vati zu, „das ganze Jahr lang
hatte ich kein schlechtes Gewissen. Warum fühle ich mich jetzt
plötzlich so schlecht, wo sich doch eigentlich gar nichts geändert
hat?“
“Kein Weg wird gleich nach den ersten Schritten beschwerlich. Das
geschieht erst dann, wenn Sie ihn konsequent und lange genug
beschreiten und nicht von ihm abkommen. Dann aber gibt es zum
Glück auch keine Umkehr mehr.“
“Meinen Sie?“
“Durch die Bezeichnung der Dinge sind Sie vom Verborgenen zum
Offensichtlichen fortgeschritten. Das lässt sich nicht mehr
rückgängig machen. Aber seien Sie unbesorgt, früher oder später
lösen sich die Worte ganz allein von den Dingen. Wir sagen zwar:
Das ist ein Tisch, aber wenn es wirklich ein Tisch wäre, könnte es
nicht gleichzeitig auch ein table oder stùl sein. In Wirklichkeit ist
das gar kein Tisch, table oder stùl, nur wir haben wegen der Worte
den Eindruck, dass wir dieses Ding verstehen, dass wir einen Teil
der Welt erfasst haben. Aber wenn das sowieso kein Tisch ist,
warum sollten wir dem Ding nicht einen beliebigen anderen Namen
geben: zum Beispiel Stumpen oder Krippe. – Oh, ist das spät!“
Auch ich war überrascht.
“Versprechen Sie sich bloß nicht zu Hause!“
Zu Hause wartete Mutti bestimmt schon. Es war nicht schwer, sich
das gemeinsame Mittagessen vorzustellen:
„An der frischen Luft seid Ihr bestimmt hungrig geworden! So, hier
ist das Süppchen.“ Mutti setzt ihren Sohn in den hohen Kinderstuhl.
„Isst du allein? – Also dann, guten Appetit Jungs. Wo wart Ihr
denn?“
“Im Gün.“
„Im Grünen? Du Schlaumeier! Und was habt Ihr im Gün gesehen?“
“Swabben.“
“Wie bitte?“
„Schwalben“, hilft Vati.
“Schwalben? Und was haben die Schwalben gemacht?“
“Fatta fatta.“
“Richtig, sie haben flatter, flatter gemacht.“ Mutti kann nicht genug
staunen, wie sich dem Kleinen die Zunge gelockert hatte! „Weil er
so viele Anregungen bekommt“, erklärt sie Vati. „An jeder Ecke
sieht er etwas Neues!“
Vati weiß Bescheid.
“Und was gab es dort noch?“
“Pintze.“
“Pilze“, wiederholt Vati, damit Mutti versteht.
“Und warum habt Ihr keine mitgebracht? Ich hätte sie doch in die
Suppe tun können.“
“Das war so ein bitterer, Mutti, ein Gallentäubling.“
“Und den hat Vati erkannt?“
“Vati hat eine totemacht.“
“Was erzählst du da? Wen hat Vati tot gemacht?“
“Eine Kreuzotter“, beeilt sich Vati mit einer Erklärung.
“Im Park war eine Kreuzotter?“
“Wir waren heute im Wald. Den Park kennen wir doch schon – und
bis zum Wald ist es nur ein kleines Stück.“
“Übertreibst du nicht?“ Mutti wird plötzlich ernst. „Wenn du mit
ihm in die Wildnis ziehst, lasse ich euch nächstes Mal nicht raus.“
„Hörst du, mein Sohn? Mutti will an die frische Luft und verträgt
das Wetter nicht. Sie hätte gern einen Abenteurer, aber die
Abenteuer verbietet sie ihm. Typisch Frauen, mein Junge, die wirst
du auch noch kennen lernen.“
“Bis dahin hat er ja wohl noch genug Zeit“, plustert Mutti sich auf.
„Jetzt geht er in die Heia. Der Ärmste reibt sich ja schon die
Augen.“
Mutti bringt den Kleinen zu Bett und als sie zu Vati zurückkehrt,
schmilzt sie nur so dahin.
“Du bist wirklich toll. Ich bin so erstaunt, was er in der Natur schon
alles gelernt hat. Ich habe gar nicht gewusst, dass du so gut
Bescheid weißt! Ich bin dir wirklich sehr dankbar, Vati. Wenn Ihr
zusammen seid, kann ich mich ein bisschen erholen oder etwas
lesen, damit ich nicht immer nur am Herd stehe. Aber auch du hast
etwas davon: Zu Hause erwartet dich keine dumme und müde Frau.
Ist dir aufgefallen, dass du in der letzten Zeit gar nicht mehr so oft
erkältet bist?“
“Na klar habe ich das bemerkt, ich bin fit wie ein Turnschuh.“
“Du bist so männlich geworden, mein Schatz!“ Mutti senkt die
Lider.
“Herr Oberförster“, sprach ich den Kellner an, „fliegt noch ein
Schwarm?“
“Aber keine Schwalben mehr“, bat Vati.
“Dann wenigstens Mauersegler.“
Der Kellner brachte zwei kleine Fernet.
“Wir sollten im Hellen nach Hause kommen. Damit wir uns nicht
verirren. Das sieht nach einem Schauer aus und im Walde regnet es
immer zweimal.“
“Die elfte Stunde entscheidet.“ Mit Kennermiene schaute ich zur
Decke.
Der Kleine hatte inzwischen seine Limonade ausgetrunken. „Kann
ich noch eine Margerite pflücken?“
“Lieber nicht, mein Junge. Du musst sonst andauernd Kreuzottern
totmachen.“
“Ich zeige dir, wo Blaubeeren wachsen. Lauf nur zum Wasserfall,
dort gibt es ganz viele.“ Ich schickte den Jungen zur Theke, wo er
sich Bonbons aussuchte.
“Und auf dem Rückweg sammle ein paar Äste, wir machen ein
Lagerfeuer … “ Vati verstummte, da wir plötzlich allein waren.
„Ich wollte mich bei Ihnen bedanken“, wechselte er das Thema. „Es
ist Ihr Verdienst, dass ich nicht nur hier mit Ihnen, sondern auch zu
Hause eine herrliche Zeit erlebe. Mutti und ich waren noch nie so
glücklich miteinander.“
“Seien Sie vorsichtig. Bei einem solchen Wortschatz wäre es schon
gut, ein Wörterbuch anzulegen.“ Aus mir sprach die Erfahrung.
“Ich habe Angst, sie könnte es beim Saubermachen finden.“
“Sie können es hier lassen. Ich werde alle neuen Ausdrücke für Sie
ergänzen und Sie vor dem Nachhauseweg immer abfragen.“
“Womit habe ich soviel Freundlichkeit verdient?“
“Wenn Sie schon einen Grund brauchen, dann sagen Sie sich
einfach, dass wir Männer zusammenhalten müssen. – Vorsicht, da
kommt er“, presste ich durch die Zähne.
Der Junge kletterte geschickt auf seinen Stuhl und begann auf den
Bonbons herumzukauen.
“Hört ihr die Stille?“, nahm ich den Faden wieder auf.
“Am besten brennen Kiefernzapfen“, erinnerte sich Vati mit einem
Blick auf seine glühende Zigarette. „Und wie sie duften. Atme tief
durch!“
Der Kellner brachte uns die Speisekarte, die Vati melancholisch mit
einem Vers über fallendes Laub kommentierte.
“Schauen Sie“, zeigte ich ihm, „Rehe! Die sieht man heutzutage
selten! Vor dem Krieg gab es hier auch Bären! Hat mein Vater
erzählt. Ich habe sie nicht mehr erlebt. – Jeden Tag stirbt eine
Tierart aus“, ich wies den Jungen auf die ausgestrichenen Speisen
hin. „Schau mal hier, allein seit letztem Montag.“
“Wir müssen leider los“, seufzte Vati, als ich mich so setzte, dass
auch er in die Karte schauen konnte, „Mutti erwartet uns zum
Mittagessen.“
Damals sahen wir uns zum letzten Mal in dem Lokal. Am
folgenden Samstag wartete ich vergeblich auf Vati. Auch am
Sonntag kam er nicht. Ich habe eine Ahnung, was geschehen sein
könnte, ja ich sehe es auf der Kneipenwand vor mir wie im Kino:
Der Junge wünscht Mutti eine gute Nacht, Mutti dreht sich von der
Spüle mit dem Geschirr weg, trocknet sich die Hände ab und küsst
den Jungen auf die Stirn. Ihr Blick ist irgendwie Unheil
verkündend.
“Bist du böse?“, piepst der Kleine.
“Auf dich nicht.“
Vati kommt in die Küche.
„Ihr seid schon fertig mit dem Abendessen?“, versucht er sich zu
orientieren. „Warum hast du mich nicht gerufen?“
Mutti trocknet sich von neuem die Hände ab und öffnet ein
Schubfach im Küchentisch. Sie zieht ein Blatt Papier hervor und
hält es Vati vor die Augen. „Kannst du mir das erklären?“
Auf dem Bild, niedlich von Kinderhand gemalt, ist das Lokal „Zum
Fass“ zu erkennen.
Vati versucht Zeit zu gewinnen. „Das hast du gemalt?“
Anerkennend schaut er den Kleinen an.
„Das Bild heißt ‚Mit Vati im Wald.“, ergänzt Mutti.
Es hat keinen Sinn alles abzustreiten. Vati setzt sich auf einen Stuhl
und wartet, bis die Lunte zur Sprengladung hinunterbrennt.
“Drei Jahre lang reden wir völlig aneinander vorbei“, explodiert
Mutti.
“Und nie zuvor haben wir uns so gut verstanden, erinnere dich nur“,
versucht Vati einen Scherz. Aussicht auf Erfolg hat er nicht.
„Ist dir klar, dass er nach den Ferien in den Kindergarten kommt?“
“Er holt das schnell auf, Sprachen zu lernen fällt Kindern ganz
leicht. Ich habe auch ein Wörterbuch für ihn angelegt“, prahlt Vati,
aber auf Mutti macht das keinen Eindruck. Ganz im Gegenteil,
anscheinend hat er damit eine neue Lunte gezündet. „Geh ins Bett,
Milan, morgen ist Samstag, wir machen einen Ausflug ins Grüne“,
verspricht Vati unbedacht.
“Ihr geht nirgends wohin!“, detoniert die Ladung. „Ab ins Bett!“
“Erzählt mir Vati ein Märchen?“
“Märchen gab es genug! Geh schlafen!“ Mutti trägt den Jungen ins
Schlafzimmer. Bevor Vati sich einen Sliwowitz eingießen kann, ist
sie zurück, schließt die Tür, nimmt Vati die Flasche aus der Hand,
hängt die Schürze weg und setzt sich. „So, und jetzt erzählst du mir
die Wahrheit.“
Das macht er, es nutzt aber nichts.
“Du hast seine Gesundheit zerrüttet!“
„Hast du irgendwelche Symptome bemerkt?“
“Das wird sich erst im Alter zeigen.“
„Mit dem Alter kommen höchstens die Alterskrankheiten.“
Sie bleibt ernst.
“Woher nur kommt dieser Aberglaube, dass es draußen im Modder
gesünder sei als drinnen am Tisch? Der Junge von gegenüber wurde
mit einer Lungenentzündung aus dem Gebirge zurückgebracht! Du
musst wenigstens zugeben, dass wir in den ganzen drei Jahren nicht
ein einziges Mal nass geworden sind? Wir wissen nicht, was
Heuschnupfen ist! Und alle Kinder in der Umgebung laufen mit
einer Rotznase herum!“
Sie antwortet nicht.
“Wenn man in einem Lokal ‚Ersoffener. sagt, bedeutet das:
Speckwurst in Essig! Und in der Natur? Was ist das kleinere Übel?“
Endlich schluckt sie. „Jedenfalls hast du mich drei Jahre lang
betrogen.“
“Warum sollte ich? Ich habe mit dir die drei glücklichsten Jahre
meines Lebens verbracht! Jetzt werde ich beginnen dich zu
betrügen, wenn du so zu mir bist.“
“Du hast mich angelogen, und den Jungen auch.“
“Wie kommst du denn darauf?“
“Hast du ihm nicht gesagt, dass ihr in der Natur seid?“
“Und, waren wir das etwa nicht? Glaubst du, die Natur, das sind
Wetterlaunen? Für dich vielleicht. Wir haben eine andere Natur!
Deshalb verstehst du uns nicht!“
Das hätte er nicht sagen sollen. Jetzt beginnt sie zu weinen.
Und ich sitze hier, Asche auf meinem Haupt, die Ursache für das
Unglück zweier anständiger Menschen. Ich muss etwas
unternehmen, schließlich habe ich Vatis Visitenkarte. Ich kaufe
einen Blumenstrauß und mache mich auf, um ein Geständnis
abzulegen.
Vati kommt zur Tür.
„Was für eine Überraschung! Wir essen gerade Mittag, essen Sie
mit uns?“
“Nein, danke, ich bin nicht zum Mittagessen gekommen. Ich
komme ungelegen, entschuldigen Sie! Jeden Samstag warte ich, ob
Sie nicht auftauchen, ich werfe mir vor, dass ich Ihnen
Unannehmlichkeiten bereitet habe, als Ausdruck meines Bedauerns
würde ich Ihrer Frau gerne eine kleine Aufmerksamkeit
überreichen …“
“Es gibt keinen Grund sich zu entschuldigen, aber die Blumen wird
meine Frau bestimmt nicht ablehnen. Kommen Sie herein, behalten
sie die Schuhe an …“
Und so trete ich ein, von hinten weitergeschoben, eher wie eine
Marionette als wie ein Autor. „Guten Tag“, stottere ich, „ich bin der
Sünder, dessen dummer Einfall das Glück Ihrer Familie bedroht
hat …“
Mutti erhebt sich mit leuchtenden Augen, lässt sich die Hand
küssen und nimmt die Blumen entgegen. Dabei weicht keine
Sekunde lang dieses mütterliche Lächeln von ihrem Gesicht, das
glücklich verheiratete Frauen für uns Junggesellen bereit haben. „Es
freut mich ja so, Sie kennen zu lernen. Ich hatte schon befürchtet,
dass ich nie die Gelegenheit haben würde, mich bei Ihnen zu
bedanken.“
“Bedanken? Ich habe Ihnen doch eine schwere Zeit bereitet …“
“Alles hat seinen Preis. Soll er nur lernen. So viele Sprachen wie du
kennst, so viele Male bist du ein Mensch.“
Daraus werde ich nicht schlau. Was für Sprachen?
“Ich habe immer darunter gelitten, dass wir uns nicht verstehen,
obwohl wir uns doch lieben. Dann schnauzte mich Vati wieder
einmal an – wenn Euch Männern die Worte fehlen, erhebt Ihr
wenigstens die Stimme –, warum ich so viel unnützes Zeug kaufe,
und ich erwiderte, dass ich nur das Nötigste einkaufen kann, weil
sein Gehalt für unnützes Zeug gar nicht reicht. Und in diesem
Augenblick tönte es aus Milans Bett: ‚Wenn Vati unnützes Zeug
sagt, meint er Orangen. Wenn Mutti unnützes Zeug sagt, meint sie
weitere Hamlet-Übersetzungen.. Wortwörtlich, können Sie sich das
vorstellen? Wenn er nicht wäre, hätte ich gar nicht gewusst, wie
viele Worte für Vati eine ganz andere Bedeutung haben als für
mich: sauber, Gesundheit, spät, früh, Witz, Arbeit, kalt … Es war
höchste Zeit, dass uns das jemand übersetzt hat!“
Mutti bringt einen vierten Teller und füllt ihn mit Suppe.
„Guten Appetit!“
Ich lasse mich nicht zweimal bitten.
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