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Pøemysl Rut - Prag für Schlafwandler

Übersetzung: Rolf Simmen

Die Eisenbahnbrücke


Als hätte ein Riese sich selbst verbrannt
aus Protest gegen die sieben Zwerge
So liegt ein verkohltes Gerippe über dem Fluss
Und durch seine Eingeweide fressen sich
Keuchende Würmer in freundlichere Gegenden



Popelkas Pumpe
Für Brigita Hertlová

Damit es klar ist: Popelka heißt auf Tschechisch Aschenputtel, und das Aschenputtel in dieser Geschichte ist Popelka Biliánová, eine Prager Volksschriftstellerin, wohnhaft auf dem Vy¹ehrad vor dem Leopoldstor. Obwohl diese Dame eine ganze Pragensia-Bibliothek mit rosenwangigen Gestalten, korpulenten Personen und Charakterfiguren bevölkert hat, kam sie selbst bisher noch in keiner Erzählung vor. Aber wie das bei Aschenputteln so ist, schließlich hat auch Frau Biliánová ihr Märchen gekriegt. Hier ist es:
An einem Frühlingsmorgen im Jahre 1936 stand vor Popelkas Haus wie immer ein grüner Pumpbrunnen. Und wie immer um diese Zeit kam Popelka heraus, um einen Eimer mit Wasser zu füllen. Sie pumpte wie immer, pumpte noch mehr, pumpte wie nie zuvor, aber es floss kein Wasser, nicht einmal das übliche vielversprechende Glucksen in der Tiefe erklang. Das kam Popelka seltsam vor, doch sie pumpte weiter, ohne auf die Erschöpfung zu achten, denn ihr Sinn für Prager Geheimnisse sagte ihr, dass diese Pumpe noch nicht ihr letztes Wort gesprochen hatte. Und wirklich: Am Rohr, durch das sonst Wasser floss, bildete sich eine Beule wie bei einem Krokodil, das eine unverdauliche Beute erbricht. Das war schauderhaft, und Popelka hörte bloß deshalb nicht auf zu pumpen, um nicht gegen die Inspiration zu lästern. Die rätselhafte Beule blähte den Schlund der Pumpe auf und näherte sich langsam der Mündung. Popelka wischte sich abwechselnd den heißen Schweiß der Anstrengung und den kalten Schweiß des Grauens weg. Endlich öffnete sich das Rohr wie eine Krokodilsschnauze – und in den Eimer rasselte ein menschlicher Schädel!
„Pfui“, Popelka spuckte und bekreuzigte sich dabei. „Das ist dieser altehrwürdige Vy¹ehrad. Die Geschichte ist über ihn hinweggegangen, aber in der Gegenwart kann man hier nicht leben. Herr Jedlièka“, rief sie zum Nachbarn gegenüber und stellte ihm den Eimer unters Fenster, „können Sie mir das erklären?“
Herr Jedlièka, der berühmte Knochenchirurg, bereute es, dafür die Brille mitgenommen zu haben.
„Unglückliches Frauenzimmer, ich wundere mich über Sie. Da haben Sie eine solche Leserschaft und führen sich auf wie irgend ein verkannter Dekadenter!“
„Aber das ist aus meiner Pumpe herausgefallen“, verteidigte sich Aschenputtel.
„Das glaubt Ihnen doch keiner.“
„Warum nicht? Was ist daran Unwirkliches? Sehen Sie den Schädel? Sehen Sie die Pumpe? Na sehen Sie.“
„Wissen Sie was? Gehen Sie damit zu Pekar und lassen Sie mich in Ruhe!“
„Bäcker? Was hat denn ein Bäcker mit meiner Pumpe zu tun?“
„Nein, ich meine Professor Pekar, der dieses Buch über den Sinn der tschechischen Geschichte geschrieben hat.“
„Dann ist das bestimmt ein fähiger Wissenschafter. Der wird mir den Sinn dieses tschechischen Schädels erklären können. Vielen Dank, ich werde ihn gleich besuchen.“
In der ersten Telefonzelle brachte Popelka die Adresse des Herrn Professor in Erfahrung und bat ihn gleich um fachlichen Beistand.
„Kommen Sie nur, Frau Biliánová, ich lese gerade Ihr Buch, und es fehlt mir eine Seite darin“, freute sich der Gelehrte und fühlte sich in seiner Meinung bekräftigt, dass scheinbare Zufälle nur bislang unentdeckte geschichtliche Gesetzmäßigkeiten sind.
Popelka stellte den Eimer auf den Perserteppich, und der Herr Professor begann mit der Untersuchung. Er beugte sich vor und begutachtete sorgsam den Schädel. Popelka traute sich kaum zu atmen.
„Sie haben Glück, Frau Biliánová, das ist Libussas Schädel“, sprach Herr Professor mit Bestimmtheit.
„Kann man das so genau erkennen?“ staunte Popelka.
„Das verlangt bloß ein geübtes Auge für die Beziehung zwischen Schädel und Gesicht, die ich als Stirn- und Kehrseite des selben Phänomens begreife, nämlich des menschlichen Kopfs. Akzeptieren Sie diese hypothetische Prämisse?“
Popelka nickte, obwohl sie das Wort „hypothetisch“ an eine Klaviersonate von Beethoven erinnerte.
„Nun denn“, fuhr der Historiker fort, „dann reicht es, sich zur vorgefundenen Kehrseite die entsprechende Stirn vorzustellen. Und dieser Schädel verkörpert den gemeinsamen Nenner der ganzen Darstellungstradition der Fürstin Libussa seit der nationalen Wiedergeburt bis zur zeitgenössischen Verkörperung durch Opernsängerinnen. Beachten Sie die Höhe der Stirn, denken Sie sich zwei schwarze Zöpfe hinzu und den Scheitel dazwischen, bedenken Sie, dass der Schädel auch genügend Platz für den Wahrsagerblick bietet...“
„Herr Professor, können Sie das auch umgekehrt?“
„Die Frage verstehe ich nicht“, gestand der Professor.
„Ob Sie geruhen“, präzisierte Popelka, „hinter jedem Gesicht den Schädel des Betreffenden zu sehen.“
„Natürlich. So ist eben mein Menschenbild.“
„Von mir auch?“
„Auch von Ihnen. Das nennen wir historische Perspektive.“
„Puh“, Popelka schüttelte sich, „und das sagen Sie einer Dame?“
„Ich gebe zu, dass diese Fähigkeit, wenn auch für die Wissenschaft sehr zuträglich, mir doch in der Jugendzeit die Liebesabenteuer erschwert hat. Aber sprechen wir lieber über Ihr Buch.“ Herr Professor errötete, und als er das bemerkte, wandte er sich zum Nachttischchen, um der Schriftstellerin ihr Werk zu reichen. „Es geht von Hand zu Hand“, er neigte sich mit Bewunderung und etwas Neid vor, „und dabei ist wohl die Seite 13 bei einem Leser verblieben. Wären Sie so gut?“
Popelka war geschmeichelt und als sie aufgefordert wurde, sich zu setzen, erzählte sie die dreizehnte Seite besser, als sie sie zuvor geschrieben hatte. „ ... der Kráèmerka klopfte das Herz wie ein Hammer, und schnell knöpfte sie sich die Joppe zu, damit es ihr nicht zur Brust heraus springe, und zog das Kopftuch fest, damit das klopfende Herz nicht etwa durch die Kehle herausfliege“, so endete sie.
Im Zimmer war es mittlerweilen dunkel geworden, aber Herr Professor hatte kein Licht gemacht. „Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen an Dankes Stelle mein Buch über den Sinne der tschechischen Geschichte widme.“
Popelka erkannte ein schwarzes Bündel und es fiel ihr ein, dass darin wohl die eine oder andere Seite zu viel sei.
Sie bedankte sich, legte das Buch in den Eimer zum Schädel und verabschiedete sich.
Am nächsten Frühlingsmorgen im Jahre 1936 kam Popelka heraus, um ihren Eimer mit Wasser zu füllen. Sie pumpte wie immer, das Wasser wogte wie immer im Eimer, Popelka betrachtete dabei wie immer die Passanten, aber heute sah sie sie ganz anders. Hier sah sie ein Gesicht, das nur lose auf den Schädel mit den riesigen Zähnen aufgespannt war, da wiederum Augen, die matt aus zwei dunklen Abgründen leuchteten. Puh!
Und wenn dieses Trugbild wenigstens am Schreibtisch verschwunden wäre! I wo. Hinter den bei der Leserschaft so beliebten rosenwangigen Gestalten, korpulenten Personen und Charakterfiguren zeichnete sich unablässig ein bei der Leserschaft unbeliebtes grinsendes Skelett ab. Popelka vergrub Libussas Schädel im Garten, aber das half nichts. Sie verbrannte das Buch über den Sinn der tschechischen Geschichte im Ofen, aber auch das nützte nicht. Sie schaute jedes Blatt ihres Notizbuchs von der Rückseite an, doch das Memento, obgleich unsichtbar, blieb leserlich.
„Mit mir ist es vorbei“, begriff Popelka, „Herr Jedlièka hatte doch recht. Da habe ich solch eine Leserschaft und verderbe mir auf die alten Tage den Ruf mit morbidem Nihlismus? Da verstumme ich lieber.“
Gesagt, getan. Fünf Jahre darauf schmückten die dankbaren Leser ihrer Prager Idyllen ihr Haus mit einer Gedenktafel. Auf ihr steht zu lesen, dass Popelka Biliánová am 7.3.1941 gestorben ist.

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