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Irena Dousková - Warum ist diese Nacht anders als die anderen Nächte

Übersetzung: Rolf Simmen

Der Rowdy


Sie sah durchs Fenster, wie er es schrieb. Er schaute sich vorsichtig um, holte aus der Hosentasche einen Kreidestummel und schmierte es schnell hin. Dann lächelte er zufrieden und verschwand um die Ecke. Die ganze Zeit schaute sie hinter dem Vorhang dabei zu. Sie hatte ihn kommen sehen, und es war ihr klar, was er tun wollte. Er hatte es schon einmal getan, vor einigen Tagen. Da hatte sie das Fenster aufgerissen und ihn angeschrien.
„Was tust du da? Lass das gefälligst bleiben, du Rowdy!“
Da war er abgehauen. Jetzt war er aber wieder gekommen. Sie schaute ihn durch den Vorhang an und überlegte, ob sie rausgehen oder ihn wenigstens wieder zum Fenster heraus anschreien sollte. Schließlich tat sie nichts. Sie wartete, bis er es fertiggeschrieben hatte und selber abhaute. Erst dann zog sie eine dicke Strickjacke über ihre Schultern, steckte die Füße in alte, abgelatschte Pantoffeln - die für den Garten - und ging vors Haus.
Auf der Wand zwischen Tür und Fenster, an der gleichen Stelle wie das Mal zuvor, stand in großen, holprigen Buchstaben: JÜDIN!!! Dreimal unterstrichen. Und daneben: FAK YU!
Sie seufzte still. Sie nahm den Lappen, den sie in der Tasche bereit hatte und mit dem sie die Aufschrift wegwischen wollte, aber diesmal schaffte sie es nicht. Der Junge hatte keine Kreide gehabt, wie sie erst dachte, oder er hatte vielleicht welche gehabt, hatte sie aber nicht benützen wollen, damit man die Buchstaben nicht so schnell wegwischen konnte. Er hatte seine Meinung mit einer orangefarbenen Ziegelscherbe tief in den Putz gekratzt. Sie versuchte, fester zu reiben, aber auch das nützte nicht viel. Sie ließ es sein. Sie zog die Jacke richtig über, knöpfte sie zu und humpelte so wie sie war, in den abgelatschten Gartenpantoffeln, zum Fischteich. Das waren nur ein paar Schritte.
Es wurde langsam dunkel. Auf der Wasseroberfläche lag ein schwarzer Schatten. Sie blieb eine Weile stehen, halb zwischen den Ästen der Trauerweide versteckt, und schaute sich nach den Enten um. In der fortschreitenden Dämmerung konnte sie bloß zwei erkennen, doch die waren weit weg am gegenüberliegenden Ufer. Zwei kleine Häufchen, eingerollt und schlafbereit. Sie hatte sowieso kein Stück Brot dabei, auch kein Hörnchen, sie war ja nicht wegen der Enten aus dem Haus gegangen. Sie drehte sich um und lenkte ihre Schritte nach Hause zurück. Das einstöckige Häuschen stand an einem besonderen Ort, es war zwar fast am Dorfplatz, aber doch auch ein bisschen abseits, in einem engen Gässchen an einem abgelegenen Uferstück des kleinen Fischteichs. Der hintere Trakt des ehemaligen Jezek-Gutshofs trennte es vom Dorfplatz, und einige mächtige, uralte Weiden vom Teich. Darum hieß es hier auch „Bei den Weiden“. Ihr Haus war ebenfalls einmal Teil eines großen Guts gewesen, dem Taussig-Hof. Ursprünglich bestand er eigentlich aus zwei Häusern. Obwohl es einfache Dorfbauten waren, hatten sie beide ein oberes Stockwerk mit einer hölzernen und mit der Zeit auch steinernen Pawlatsche, beide standen zum selben, geräumigen Hof hin, zusammen mit einer steinernen Scheune, durch die man zu einem weitläufigen Garten gelangte, voller Obstbäume und einer ganzen Reihe weiterer Wirtschaftsgebäude. Trotzdem hatte sie auch Zeiten erlebt, wo es ihnen beinahe zu eng wurde. Vater und Mutter, sie selber mit Otta, Otik und Marcela, Ruth, die ältere Schwester mit Gatte und drei Kindern... und im Nebenhaus der Schwager mit seiner Familie. Jetzt war sie alleine hier. Schon lange, schon dreißig Jahre. Weiß Gott, warum sie hier geblieben war. Sie blieb in dem einstöckigen Landhaus wohnen, mit dem kleinen Hof und einem winzigen Gärtchen vor den Fenstern. Alles andere hatte sie an einen Prager verkauft. Sie hatten vereinbart, dass er mit der Zeit auch das Vorkaufsrecht für den Rest kriegen würde. Sie schaute sich die Schmiererei noch einmal an. Sie schüttelte den Kopf – er konnte es nicht mal richtig schreiben. Es fiel ihr etwas ein. Sie ging in die Küche und kramte ein Weilchen im Küchenschrank herum, in der obersten Schublade. Einen Augenblick später kam sie wieder heraus. In der Hand hielt sie ein Stück Kreide. Sie trat zur Wand, unterstrich und korrigierte alle Fehler. Dann schrieb sie noch über der eigentlichen Aufschrift mit feiner, gefälliger Schrift richtig: FUCK YOU! Jetzt war es gut. Sie lächelte wie vorhin der Junge.
Zuhause blieb sie einen Moment mit ausgestreckten Armen vor dem Herd stehen. Das wärmte schön, draußen war sie ein bisschen steif geworden. Sie war kleinwüchsig, knochig, beinahe mager, und es wurde ihr leicht kalt, da reichte ein Augenblick. Vor kurzem hatte sie sich entschieden, eine neue Heizung zu besorgen – eine elektrische, einen Nachtspeicherofen. Gas wollte sie nicht, und das ewige Einheizen im Ofen begann sie schon sehr anzustrengen. Von dem Geld, das sie für den größeren Teil des Guts bekommen hatte, blieb ihr immer noch genug übrig, obwohl sie es ziemlich unter Wert verkauft hatte. Mehr, als sie brauchen konnte. Was nun damit? Man konnte ja doch nichts kaufen dafür, nicht einmal ein Päckchen guten Tees war aufzutreiben. Und für wen hätte sie sparen sollen? In den beiden Töpfen, die auf dem Ofen standen, kochte Wasser. Es war eiserne Sitte aller Dorfbewohner, stets einen Topf mit Wasser auf den Ofen zu stellen, sobald man einheizte. Als sie sich ein wenig aufgewärmt hatte, nahm sie vorsichtig den kleineren Topf und goss ein Kännchen Tee auf. Ein Beutel grusinischer Tee reichte bei ihr für eine ganze Kanne. Der Tee taugte so oder so nichts. Auch wenn man drei Beutelchen davon reintat – er hatte kein Aroma. Mit einem Tässchen Tee und einem zäh gewordenen Hörnchen von gestern setzte sie sich an den Tisch. Auch das Hörnchen taugte nichts, aber darauf kam es nicht an, sie musste sich sowieso zum Essen zwingen. Neben dem Teller schlug sie die gestrige „Volksdemokratie“ auf und setzte die Brille auf. Da war schließlich keiner, den die schlechte Angewohnheit, beim Essen zu lesen, stören könnte. Das ganze Land, -stand da -, unsere ganze schöne Tschechoslowakische Sozialistische Republik schreitet in freudiger Erwartung jenem bedeutenden Ereignis entgegen, das uns in einigen Monaten erwartet – der kommende 15. Parteitag der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Und so weiter...
Nein, auch diese Zeitung taugte nichts. Allerdings taugten die Zeitungen schon gute vierzig Jahre nichts mehr, und würden wohl auch nie mehr etwas taugen. Sie nahm die Brille ab und rieb sich mit der gewohnten Bewegung die Augen. Sie hatte große, graublaue, leicht schiefe Augen – die waren immer noch schön. Sonst aber war sie nie schön gewesen. Sie sah beinahe so aus, wie antisemitische Karikaturisten Juden und Jüdinnen zu karikieren pflegten – ein langgezogenes Gesicht, eine ausgeprägte, gebogene Nase, dunkles, dichtes Haar. Diese Tradition, die Tradition, Juden mit so einer Physiognomie darzustellen, gelegentlich noch mit spitzen Ohren bereichert, und genauso, deren Träger mit etwas Negativem in Verbindung zu bringen, reichte in Wirklichkeit wesentlich tiefer als zu den Seiten nationalsozialistischer Schundblätter oder des „Rudé pravo“.
Trugen nicht auch alle Teufel, Teufelchen und Hexen aus den Illustrationen zu den schönen tschechischen Märchen, vielleicht auch, ohne dass sich dessen bislang jemand bewusst geworden wäre, deutliche semitische Züge. Eine alte Hexe – so, genau so sah sie – wenigstens im Rahmen traditioneller Vorstellungen – tatsächlich aus. Nur mit dem einen Unterschied vielleicht, dass ihr mittlerweile ergrautes Haar kurz geschnitten und stets sorgfältig hergerichtet war. Die einstige Leiterin der Buchhaltung in der Berouner Firma Cementa, einen besseren Platz gab es für sie nach dem Krieg nicht, und sie hatte auch gar nicht danach gesucht, wirkte streng und abstrakt, und bei aller Anständigkeit benahm sie sich auch so. Ein liebes Mütterchen vom Land war sie wirklich nicht.
Sie trank das Tässchen Tee aus, auf noch mehr hatte sie keine Lust. So eine Plörre. Mit Wehmut erinnerte sie sich an die Zeit um letzte Weihnachten. Damals hatte sich, weiß Gott warum, ihre amerikanische Cousine Greta ihrer entsonnen und ihr ein kleines Päckchen voller Leckereien geschickt. Erstaunlicherweise kam es unversehrt an. Es war Kaffee drin, ein paar Bonbons, und auch Tee war dabei. Aber was für welcher! Die ganze Küche duftete. Sie seufzte leise und räumte langsam den Tisch ab. Bevor sie sich auszog, fasste sie in der Tasche nach dem Stück Kreide. Sie legte es zurück in den Küchenschrank, in die obere Schublade. Dieser Junge, dachte sie, was sollte mit dem Jungen werden? Sie wusste, wer er war. Er hieß Jirka Beran. Sein Vater war Tischler, wenn man so sagen konnte, er arbeitete in einem Holzverarbeitungsbetrieb in Beroun. Jahrelang waren sie morgens im gleichen Bus gefahren. Die Mutter arbeitete im Kuhstall, so wie zuvor ihre Mutter, die Großmutter des Jungen. Er hatte noch eine ältere Schwester, Ivana, ein unauffälliges Mädchen mit Brille, das in Beroun auf die gleichen Schule wie einst sie selbst ging – auf die Handelsmittelschule. Damals hieß das allerdings noch Handelsakademie. Der Junge hing ständig mit einer kleinen Bande von Seinesgleichen bei der Bushaltestelle rum, gleich am Dorfplatz. In der schmutzigen Blechbude hatten sie ihr Hauptquartier. Das war nur ein paar Meter von ihrem Haus und vom Fischteich entfernt, sie kam fast täglich an ihnen vorbei.
Egal, sie würde sich einfach schlafen legen und es sich noch einmal überlegen.
Am nächsten Tag, am Montag, machte sie sich gegen fünf Uhr nachmittags zu den Berans auf. Energisch schritt sie über den Dorfplatz und weiter hoch bis zur Schule, gegenüber stand das immer wieder angestückelte Haus der Berans. Es war schon beinahe dunkel, die Tage wurden kürzer, es nieselte, und die kalte Novemberluft war rauchgesättigt. Alle heizten schon. Im dunklen Mantel, auf dem Kopf ein schwarzes Hütchen, ganz klein und irgendwie nicht in diese Zeit und an diesem Ort passend, in der knochigen Hand einen aus dem Leim gegangenen Schemel aus dem Flur, trotzte sie den kalten Windstößen. Im ganzen Dorf trugen nur sie und die Witwe des Schulleiters noch hartnäckig Hüte, und wenn sie sich manchmal zufällig begegneten, war das ein Treffen zweier alter Dreimaster, die in diesen Gewässern schon lange nichts mehr zu suchen hatten. Das fühlten beide, und obwohl sie sich nicht besonders nahe standen, grüßten sie sich ehrerbietig und tauschten allein wegen der Hüte ein paar höfliche Worte aus, leise und bedeutungslos wie ein Büschel Stiefmütterchen auf dem Grab einer verlorenen Welt.
Der Hund drehte schon durch, bevor sie überhaupt geklingelt hatte. Es schauderte sie ein bisschen. Sie wusste, dass er in der Hundehütte angekettet war, aber trotzdem... Seit einiger Zeit mochte sie Hunde nicht mehr, besonders nicht die großen, und das spürten die. Die spürten ihre Angst. Der Junge öffnete ihr. Vor Schreck fuhr er zusammen.
„Guten Tag“, sagte sie, „ist der Vater zuhause?“
Er brachte kein Wort aus sich heraus, deutete nur fahrig nach hinten und verzog sich blitzartig. Da ging aber schon das Fester auf, und es erschien das runde Gesicht von Herrn Beran.
„Guten Tag, Frau Bergmannová, kommen Sie rein.“
Sie wollte ihm sagen, das sei überflüssig, doch er war schnell wieder nach drinnen verschwunden. Darum ging sie rein. Er kam ihr im Flur entgegen.
„Guten Tag“, wiederholte er. „Was kann ich für Sie tun? Kommen Sie, legen Sie ihren Mantel ab und kommen Sie rein.“
Er zeigte auf einen eisernen Kleiderhaken in Form des Räubers Rumzeis.
„Danke“, sprach sie, „ich will Sie nicht aufhalten. Ich wollte Sie nur um etwas bitten. Das können wir gleich erledigen.“
„Na gut, wie Sie meinen.“
Sie reichte ihm den Schemel und erklärte, dass er aus dem Leim gegangen sei und eine Reparatur brauche.
„Ich brauche ihn, um die Schuhe anzuziehen, wissen Sie. Ich bin daran gewöhnt. Da hilft alles nichts, ich kann mich einfach nicht mehr so gut bücken.“
„Machen Sie sich nichts draus, ich bin fünfundvierzig und kann mich auch nicht mehr über meinen Bauchnabel bücken“, lachte er. „Klar, das ist kein Problem. Machen wir, flicken wir, das haben wir im Nu.“
„Vielen Dank.“
„Nichts zu danken. Kommen Sie es morgen holen. Oder wissen Sie was, Quatsch, bleiben Sie zuhause, ich schicke Ihnen Jirka vorbei und basta. Jirka! Jirka, wo bist du? Wo ist denn der Junge wieder hin... Na, ist egal, Jirka bringt es Ihnen morgen und Schluss.“
„Danke, das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.“
„Ist ´ne Kleinigkeit“, er lachte aufs Neue und begleitete Sie bis vors Gartentor.
„Was wollte denn die hier, die Jüdin?“, fragte ihn die Schwiegermutter, sobald er zurück in der Küche war.
„Sie wollte... Entschuldige mal eben. Jirka, wo treibst du dich denn wieder rum?“
Der Bursche steckte vorsichtig seinen fettigen Schopf zur Tür herein.
„Ich?“
„Wer denn sonst, wenn ich Jirka sage... gibts denn da noch einen anderen Jirka oder was?“
„Klar, Mann. Ich war die Kaninchen füttern.“
„Jetzt?“
„Ja, jetzt! Vorhin hab ich´s vergessen.“
„Und, was wollte sie?“, machte sich die Schwiegermutter beim Stricken bemerkbar.
„Sie wollte, dass ich ihr einen Schemel flicke.“
„Tss“, machte die Schwiegermutter, „was muss die dir so auf den Keks gehen, die Alte.“
„Sie geht mir gar nicht auf den Keks, das ist doch ein Klacks.“
„Ja, ein Klacks, aber woher sollst du die Zeit dafür nehmen? Wir sind doch nicht so... nicht so..“
„Nicht so was denn?“ ließ Jirka sich hören.
„Nicht so.. halt einfach.. nicht so steinreiche Juden.“
„Wer sind die denn eigentlich, diese Juden?“
„Das haben sie euch doch wohl in der Schule gesagt, nicht?“ fragte der Vater.
„Ja, eigentlich nicht, oder... na, nur ein bisschen. Die meinten, der Hitler hätte die, na ja, also irgendwie umgebracht oder so was.“
„Und der wusste auch, warum er das tat“, betonte die Großmutter, ohne dass die Nadeln stillstanden.
„Aber Mama“, fiepste die Mutter des Jungen.
„Na hör mal, was sagst du da? Du übertreibst wohl ein bisschen, nicht?“ entsetzte sich der Vater.
„Mama, das kannst du ihm doch nicht sagen. Der Junge verschwatzt sich irgendwo und dann kriegt er Scherereien in der Schule.“
„Na geht nur los auf mich. Langt tüchtig zu. Ist doch wahr. So wie die Bergmannová da, schau sie dir doch an, was für ein widerliches, eingebildetes Weibsbild die ist. Spricht mit keinem, geht nie weg, weiß Gott für wen sie sich hält.“
„Wenn man dir Mann und Kinder umgebracht hätte und überhaupt die ganze Familie, und man dich im KZ gefoltert hätte, würdest du da oft ausgehen? Das kannst du dir doch gar nicht vorstellen, so etwas Grauenhaftes..“
„Ich bitte dich, wer weiß, wie das eigentlich war.“
„Wie was war?“
„Na ja, wie das im Krieg war.“
„Na wie soll das gewesen sein, sie haben einfach alle geschnappt, fortgebracht und ermordet. Da weiß ich nicht, was daran nicht klar sein soll.“
„Ach so? Und wie kommt es denn, dass die Bergmannová wieder zurückgekehrt ist?“
„Na und? Nimmst du ihr das etwas übel?
„Schau, ich weiß, was ich weiß. Hier wurde so einiges erzählt...“
„Was denn so?“
„Hat ihre Kinder ins Gas gehen lassen und ist selber nicht gegangen. Hat sie ganz allein gehen lassen, verstehst du... Sag’ mir mal, was für eine Mutter das gewesen sein muss? Was für ein Mensch? Das hätte ich niemals..“
„Und du denkst, die hätten sich das aussuchen können? Die hätte da irgendwas entscheiden können? Das darf doch nicht wahr sein! Da platzt mir einfach der Kragen. Ich geh lieber in die Werkstatt und reparier den Schemel. Aber eins sag’ ich dir noch: Da kann mir sagen, wer will und was er will, das finde ich eine Riesenschweinerei. Davon kommt mir die Galle hoch.“
„Und was meinst du wohl, warum die nach dem Krieg nicht nach Israel gegangen ist oder weiß ich wohin, wie alle anderen, die heimgekommen sind? Warum wohl? Hatte wohl ein schlechtes Gewissen. Mir macht da keiner was vor, ich...“
„Jirka, bevor ich es vergesse. Wenn du morgen von der Schule kommst, bringst du ihr den Schemel.“
„Nein, das nicht!“ Der Junge sprang vom Tisch auf. „Ich kann nicht, morgen hab ich keine Zeit, ich...“
„Ich hab dich nicht gefragt. Du bringst es einfach hin, und wenn sie dir etwas geben will, sagst du, dass ich nichts dafür haben will.“
„Na, mach dir keine Sorgen! Die und was geben, ha ha. Du kennst sie doch.“
Der Tischler Beran knallte schnell und unnötig laut die Türe hinter sich zu.
Der Junge schlenderte auf dem bekannten Weg zum Dorfplatz. Hier kam er täglich durch, die Blechbude bei der Bushaltestelle stand genau dort, gleich beim kleinen Glockenturm. Die Jungs waren bestimmt da. Er musste aber leider ganz nach hinten, zu den „Weiden“, er würde nachher bei ihnen vorbeikommen. Jetzt hätte er lieber, wenn sie ihn gar nicht bemerkten, aber der Umweg hintenrum ging auch nicht. Er hatte keine Lust. Mindestens dreimal stampfte er absichtlich direkt in die Pfütze, und dieses Schemelchen lastete schwerer auf ihm als ein Sack Kartoffeln. Die Alte hatte scheinbar nichts gesagt, sonst hätten sie ihn sich zuhause wohl anders vorgenommen, aber trotzdem... Das hatte sie bestimmt absichtlich so eingefädelt, sie wollte es mit ihm alleine auskosten. Was würde um Himmels willen passieren? Würde sie anfangen zu lamentieren, oder wollte sie ihm trocken mitteilen, dass sie ihn direkt in der Schule angezeigt hatte? Er versuchte, sich alle möglichen Varianten vorzustellen, aber das führte nirgendwo hin. Bloß eins war klar, dass es richtig, richtig unangenehm würde. Er hatte nicht die geringste Lust, der Alten von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, ihr in die Augen zu schauen und so was. Die erwartete bestimmt, dass er sich bei ihr entschuldigte, dass er sie unterwürfig um Vergebung bat, dass er Zerknirschtheit vorgab und alles tat, damit sie ihn nicht anzeigte.
Aber das schon mal gar nicht! Am liebsten hätte er diesen polierten Schemel gleich in den Matsch geschmissen. Obwohl, andererseits war er auf das, was er getan hatte, nicht gerade stolz. In Wirklichkeit schämte er sich ganz schön dafür. Das war eine Dummheit gewesen. Er wusste nicht einmal, warum er das getan hatte. Oder er wusste es eigentlich schon, Kesner hatte ihn angestiftet, aber das würde er keinem verraten, er war kein Petzer. Aber er hätte nicht auf ihn hören sollen, er war dumm gewesen, er war dumm gewesen, dass er auf ihn gehört hatte. Er hatte sich vor Pavlína aufspielen wollen, das war alles. Das war alles Scheiße, einfach alles total Scheiße. Er wäre besser auf den kleinen Glockenturm geklettert oder so was, aber jetzt war’s schon zu spät, jetzt war´s schon geschehen.
Er konnte tun, was er wollte, immer hörte er im Geiste seinen Alten. Der Alte hatte doch gestern gesagt, dass das eine Schweinerei sei, und dass... So angekotzt hatte er ihn schon lange nicht mehr gesehen, das hatte ihn überrascht. Ein Wunder, dass ihm von all dem nicht die Sicherung durchgebrannt war. Aber was geht ihn das verdammt noch mal an? Er kann doch nichts dafür, die Alte kann ihm doch scheißegal sein. Und doch, es war total unangenehm.
Er blieb vor dem Aushang der Gemeindeversammlung stehen. Jägerball, Arbeitseinsatz in der Landwirtschaftsgenossenschaft, Kleinbauernversammlung und Kirmes in Suchomasty... Ist das beschissen, dachte er bei sich. Was konnte man hier anfangen? Auf dem Dorfplatz warf er einen Blick zur Bushaltestelle – keiner da. Weder Kesner noch sonst wer. Wenigstens etwas. Und schon war er „bei den Weiden“. Einen Moment blieb er vor der Tür stehen, und für einen Augenblick fiel ihm ein, er könnte den Schemel einfach auf der Schwelle stehen lassen und abhauen. Es wurde ihm aber klar, dass das dummes Zeug war, dass er sich damit bloß noch mehr Unannehmlichkeiten einhandelte. Er wollte gerade klingeln, als er bemerkte, dass die Aufschrift noch immer an der Wand stand, und dass sogar noch eine weitere darüber hinzugekommen war – eine korrigierte. Das haute ihn um. Fasziniert schaute er drauf, keines Gedankens fähig, geschweige denn einer Bewegung. Da ging das Fenster einen Spalt auf.
„Guten Tag“, schoß es aus ihm heraus, er wusste gar nicht wie.
„Guten Tag“, sagte sie, „ich bin gleich da.“
Und schon stand sie an der Tür.
„Dankeschön.“ Sie musste ihm den Schemel fast aus den Händen reißen. Sie steckte ihm einen Hundertkronenschein zu. Es kam ihm überhaupt nicht mehr in den Sinn, dass Vater nichts haben wollte. Sie sah, wo er hinschaute.
„Das war falsch“, sagte sie. „Weißt du, was ‚fuck you‘ heißt?“
„Na ja, eigentlich schon… das heißt… das ist so was wie ‚du kotzst mich an‘ oder so. Ich wollte nämlich, Entschuldigung, ich..“
„Das kann es auch bedeuten, aber wörtlich es es ‚ich ficke dich‘“
Ihm blieb der Kiefer hängen.
„Ich… ja, ähm, na klar.“
Er wusste nicht, wohin mit den Augen.
„Es geht nicht runter. Du hast das schrecklich tief reingeritzt.“
„Ich.. ich würde… Ihnen helfen, das wegzukriegen, wenn…“
„Da wäre ich sehr froh.“
Zum ersten Mal traute er sich, ihr in die Augen zu blicken. Sie waren groß, blau mit einem Graustich und leicht schief.
„Es tut mir sehr leid“, sagte er.
„Hör mal, Jirka, so heißt du doch, nicht?“
Er nickte.
„Also hör mal, Jirka. Ich habe ein bisschen darüber nachgedacht, und mir ist etwas eingefallen. Was willst du mal werden, ich meine, wenn du aus der Schule kommst?“
Er fuhr wieder ein bisschen zusammen.
„Weiß ich noch nicht.“
„Na, macht nichts, das kann nie schaden. Mir ist eingefallen, möchtest du nicht, dass ich dir ein bisschen Englisch beibringe? Oder auch Deutsch, wie du willst.“
„Deutsch nicht, das möchte ich nicht, weil die Deutschen... Na egal. Aber Englisch schon, das vielleicht schon. Das wäre gut. Echt ziemlich gut. Wegen der Musik und so, wissen Sie. Dann würde ich das verstehen, die Texte und so, ich mag...“
„Die Beatles?“ forschte sie in ihren kümmerlichen Kenntnissen auf diesem Gebiet.
„Nicht mal unbedingt.. eher Queen, wissen Sie? Vor allem Queen.“ Er blickte sie an und fügte schnell hinzu:
„Aber die Beatles auch, ehrlich. Die Beatles mag ich auch ganz gern.“



Der Evangelist

Der alte Mann trat vor die Schwelle seines Hauses. Des Hauses, das im eigentlichen Sinne gar kein Haus war. Auch er selbst nannte schließlich seine einfache Unterkunft mit einer gewissen Portion schwarzen Humors eine Höhle, und da ein Fels die Hinterwand eines Raumes bildete, war diese Bezeichnung auch die zutreffendste.
Er trat in die Nacht heraus, nur um vor dem Schlafengehen ein bisschen frische Luft zu schöpfen. Die Großartigkeit des Sternenhimmels und ein Hauch betörender Frühlingsdüfte wirkten kaum noch auf ihn, genauso wenig wie die Tatsache, dass Feiertag war. Er hatte sich zwar seinen bescheidenen Möglichkeiten entsprechend eine Sedertafel bereitetet, die Gebete und den Segen gesprochen und die vorgeschriebenen vier Becher Wein getrunken, aber was ist das für ein Seder, wenn man alleine ist. Um in die Stadt runterzugehen, hatte er nicht mehr genügend Kraft, und ehrlich gesagt auch keine Lust. Heute wie auch sonst hatte er sich bemüht, allen Anforderungen des Gesetzes zu genügen, aber soviel er sich auch bemühte, nach all den schrecklichen Ereignissen der vergangenen Jahre war sein Glaube, obwohl er sich dessen nicht ganz bewusst war, doch irgendwie gebrochen. Der Tempel war zerstört und das Land voll fremder Soldaten. Dass er das noch erleben musste. Als ob Einsamkeit, Elend, Krankheit, als ob das Alter nicht gereicht hätte. Es war schwer, aufrichtig die Befreiung aus ägyptischer Versklavung zu feiern, es war fast unmöglich, sich über die Freiheit zu freuen und Gott zu danken. Aber er versuchte es, schließlich war die Tora trotz allem, oder gerade deswegen, das einzige, was blieb und Sinn machte.
Er blickte in das Dunkel vor sich, zum Weg hin, der von gekrümmten Olivenbäumen gesäumt war. Die Bäume mochte er und fühlte sich mit ihnen verwandt, weil sie noch älter waren als er. Dann noch tiefer, den Hügel hinunter, wo er die dunklen Umrisse der Stadt und das Meer in der Ferne hinter ihr mehr ahnte als sah. Eine wilde, unergründliche und verräterische Wassermasse, dunkel, voll von faulendem Schleim, von offenbarer und verdeckter Grausamkeit – genau wie das menschliche Leben, schien ihm. Das Meer zog ihn an und war ihm gleichzeitig zuwider. Am schlimmsten war, dass er wusste, dass es sich für ihn und seine Generation nicht mehr teilen würde.
Doch der Wind, der von dort kam, war gut. Seinetwegen war er noch einmal herausgekommen. Ansonsten war er froh, hier zu wohnen, scheinbar so weit weg und hoch über allem und allen.
Er wollte schon wieder hineingehen, als er plötzlich eine Gestalt bemerkte, die sich ihm schnellen Schrittes näherte. Bevor er sie richtig erkennen konnte, wusste er, wer es war. Nur Ezechiel, nur dieser naive Junge war fähig, seinetwegen in der anbrechenden Nacht den steilen Hang hinaufzuklettern. So viele Bewunderer hatte er ja nicht. Genaugenommen hatte er außer Ezechiel eigentlich keine. Seine Begeisterung hätte ihm wohl schmeicheln sollen, ihn ergreifen, aber die einzige gedankliche Bewegung, die er spürte, war Verdrießlichkeit. Er hatte keine Lust zu sprechen, wollte sich schlafen legen, und das würde jetzt nicht mehr möglich sein. Ihm wurde klar, dass er wirklich schon alt war, früher hätte er sich keine solchen Gedanken gemacht, und das verstimmte ihn noch mehr. Doch dem erhitzten, strahlenden Gesicht des Jungen gegenüber versuchte er, das zu unterdrücken. Schließlich war er in anderen Augenblicken, wenn er besser gelaunt und weniger müde war, für seine Anwesenheit recht dankbar, das musste er sich eingestehen.
„Ich wusste, dass Sie noch nicht schlafen!“ schrie der Junge schon von weitem wie am Mittag.
„Ich wollte schon“, rutschte ihm gegen seinen Willen heraus. „Aber sei willkommen“, fügte er schnell hinzu.
Das ist klar, dass ihm die Augen so leuchten, dachte er für sich. Und er ist nicht mal außer Atem geraten. Er erinnerte sich noch genau, was für ein Gefühl das ist, wenn man sechzehn, siebzehn ist und wie eine Fackel brennt. Er wusste bloß nicht mehr, wie lange das anhält, er wusste nur, dass es nicht besonders lange dauert. Bis achtzehn, vielleicht bis zwanzig? Nun, darauf kam es jetzt nicht mehr an.
„Ich habe ihnen Lamm mitgebracht!“ rief Ezechiel. „Sie hatten bestimmt noch keines!.... Sind Sie mir nicht böse? Ich wollte Sie nicht kränken.“ Er wurde unsicher, weil ihm schien, dass der Alte nicht schnell genug antwortete. „Ich habe es gut gemeint.“
„Wie sollte ich böse sein. Du hast natürlich recht,“ sagte er endlich. „Ich bin arm und alt. Da ist gar nichts dabei.“
Er sagte das allerdings nicht mit einer solchen Leichtigkeit und Überlegenheit, wie er es sich gewünscht hätte, und das grämte ihn mehr als die Tatsache, dass alles, was er gesagt hatte, die Wahrheit war. Die nackte, ganze Wahrheit.
„Aber hast du schon je einen reichen Schriftsteller gesehen?“
Das sollte ein Scherz sein, und klang tatsächlich auch eine Spur fröhlicher.
„Ja, habe ich“, antwortete der Junge einfach.
„Na gut, lassen wir das. Danke, dass du an mich gedacht hast. Heute werde ich es aber nicht mehr essen. Den Afikoman habe ich schon lange gegessen, und... nicht etwa,... nicht dass mir so viel daran liegen würde, aber ich möchte vor der Nacht nicht zu viel essen und überhaupt. Ich bewahre es mir für morgen auf, das passt ganz gut. Und nun komm rein, es wird schon kalt.“
Er nahm das gebratene Lammfleisch von dem Jungen entgegen und schritt zur Tür. Bestimmt hatte er es heimlich von zuhause mitgenommen. Er hat es einfach gestohlen, dachte er. Aber er sagte nichts, sie konnten sich doch nicht die ganze Zeit gegenseitig in Verlegenheit bringen. Sie traten ein.
„Setz dich. Zu Essen habe ich nichts mehr, aber wenn du etwas Wein trinken möchtest..“
Ezechiel nickte.
„Reich sind Sie nicht, das stimmt“, sagte er zum Alten, „aber berühmt, berühmt schon.“
„Ich?“ wunderte sich der, „Wie kommst du denn darauf? Berühmt sind Gladiatoren und Dirnen, aber nicht ich. Was glaubst du, wie viele Leute in diesem Land meinen Namen kennen – zwanzig?“
„Den Namen vielleicht nicht, aber Ihr Buch, Ihre Geschichte von Jesus kennt jeder, Sie würden sich wundern! Die Menschen erzählen sie sich, sie macht sogar in Abschriften die Runde, ich habe selbst eine gesehen.“
„Ach Gott“, seufzte der Alte tief, „und hast du sie gelesen?“
Ezechiel bejahte.
„Dann weißt du, dass es nicht mehr meine Geschichte ist. Auch ich habe so eine Spottschrift gelesen. Darauf soll ich stolz sein? Was hat das noch mit meinem Buch zu tun? Du kennst es ja, du kannst es selbst beurteilen.“
„Ja, aber nur aus Ihrer Erzählung, die Handschrift und alle Exemplare sind doch in Jerusalem verbrannt, leider. So haben Sie mir das wenigstens gesagt.“
„Da hast du recht, das habe ich vergessen. Das ist schon so lange her... Aber das ändert nichts an der Sache, die Geschichte kennst du, wir haben bestimmt schon hundertmal darüber gesprochen. Das war ganz anders, ganz anders. Aber wen interessiert’s?“
„Mich. Mich interessiert’s. Ich möchte Schriftsteller werden wie Sie.“
„Also bitte.“ Der Alte winkte angewidert ab. „Das einzige, was übrig geblieben ist, sind ein paar Namen. Sonst haben sie alles geändert.“
„Was zum Beispiel?“
„Ich möchte gar nicht wieder darüber sprechen. Ich habe es dir so oft gesagt...“
„Bitte!“
„Zum Beispiel Josef... Der Name ist geblieben. Wenn ich mich recht erinnere, haben sie aus ihm Marias Ehemann gemacht. Einen recht seltsamen Ehemann, findest du nicht? Und sein Ende, seine Todesart, haben sie auch verwendet, aber für jemand ganz anderen. Für irgend einen angeblichen Jünger Jesu. Dessen Namen habe ich vergessen, aber darauf kommt es nicht an.
Josef, ich meine den, den ich in meinem Buch Josef genannt habe, war Marias Vater. Ein frommer Jude, dem die Frau gestorben war, und später, während des Aufstands und des Kriegs, kamen alle seine drei Söhne um. Maria war die letzte, die ihm blieb.“
„War sie verrückt?“
„Ach nein, ursprünglich nicht. Erst nachdem das alles passiert war, verlor sie die Sprache, und man könnte sagen, dass sie eigentlich verrückt geworden ist. Vorher war sie ganz normal, ruhig, nett, und wenn ich mich recht entsinne, auch hübsch.“
„Sie können sich an Maria erinnern?“
„Natürlich, das sage ich dir doch, aber ich war noch ein Kind, etwa sieben oder acht Jahre alt. Was mir im Gedächtnis geblieben ist, muss nicht genau der Realität entsprechen. Viel realer ist für mich heute die Maria aus meiner Erzählung, die Maria, die ich selbst geschaffen habe. Das ist nicht die selbe Person, kann es auch gar nicht sein. Aber vielleicht gleichen sie einander.
Und dann war das, was ich damals gesehen habe, so schrecklich, dass nur das Grauen davon übrig ist. Ich glaube, ich wollte eigentlich vergessen.“
„Aber Sie haben nicht vergessen.“
„Nein, das habe ich nicht, das ging nicht. Und nicht nur das... Ich weiß, dass es Unsinn ist, aber die ganzen Jahre über hatte ich ein Gefühl der Schuld.“
„Sie waren acht Jahre alt, das haben Sie selbst gesagt. Sie konnten nichts tun, das sagt doch der gesunde Menschenverstand.“
„Du hast recht, ich konnte nichts tun. Es gibt einfach Dinge, für die aller Verstand nicht ausreicht. Ich saß damals in einer Baumkrone und wundere mich bis heute, warum ich nicht geradewegs vor ihre Füße gefallen bin.“
„Waren das Römer?“
„Ja und nein. Sie gehörten zu den römischen Legionen, aber das waren Barbaren irgendwoher vom Norden. Weißhäutig und blond. Zwei von den dreien bestimmt, nie zuvor oder danach habe ich solche Gesichter gesehen. An den dritten kann ich mich nicht mehr erinnern, der hielt vielleicht nur den verzweifelten Alten, ich weiß es nicht. Sein Gesicht ist mir nicht mehr in Erinnerung.“
„Wie kam es, dass sie ihn nicht umbrachten? Den Josef meine ich?“
„Weshalb hätten sie das tun sollen? Sie wollten ihren Spaß. Es konnte nichts Unterhaltsameres geben, als das vor seinen Augen zu tun. Sie waren nicht so barmherzig, ihm den Tod zu gönnen.“
„Alle drei vergewaltigten sie?“
„Ich glaube, nur die beiden, aber ich bin nicht sicher.“
„Und weiter, was war weiter?“
„Ich habe im Leben noch viel Grausamkeit gesehen. Unglück, Sterben, Tod... Aber nie mehr, nie mehr habe ich etwas Schrecklicheres gesehen, als die Rücken dieser beiden armen Leute, als sie von jenem Ort fortgingen.“
„Wie alt war sie da?“
„Etwa so alt wie du – sechzehn, siebzehn... vielleicht auch etwas weniger.“
„Und die Soldaten?“
„Weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich noch lange auf dem Baum sitzen blieb, nachdem sie weggegangen waren. Bis es dunkel wurde. Es war Nacht, bis ich mich nach Hause geschlichen hatte. Ich habe ordentlich was abgekriegt dafür, meine Eltern waren vor Schrecken außer sich, und ich konnte ihnen nichts sagen. Ich wollte, konnte nicht darüber sprechen, wovon ich Zeuge gewesen war. Das brachte ich nicht fertig.
Vielleicht war ich mir nicht mal sicher, was ich da eigentlich gesehen habe und ob das wirklich stattgefunden hat.“
„Aber sie haben darüber geschrieben.“
„Ja, dreißig Jahre später habe ich darüber geschrieben. Obwohl – so ist es nicht, darüber habe ich nicht geschrieben. Ich habe mir eine Geschichte ausgedacht, in der ich etwas von den wirklichen Ereignissen verwendet habe. Das ist ein Unterschied.“
„Hat sie ein Kind zur Welt gebracht?“
„Sie hat einen Sohn geboren, aber da war Josef schon lange tot. Er hat sich zwei Tage nach dieser Vergewaltigung erhängt.“
„Ein frommer Jude? Sie haben doch gesagt, er sein fromm gewesen?“
„Und du wunderst dich?“
„Nein, nein, ich - ...“
„Wie kannst du nur so dumm fragen? Und du willst Schriftsteller werden? Ich will nicht mehr darüber sprechen, du verstehst nichts davon.“
„Seien Sie mir nicht böse, so habe ich das nicht gemeint. Was war weiter? Mit ihr und dem Kind?“
„Ich weiß nicht, ich weiß nicht mehr. Was soll schon gewesen sein? Sie blieben allein zurück. Arm, verschmäht und ein für allemal verdächtig. Niemand wusste genau, was passiert war, aber jeder wusste, dass es etwas war, was nicht hätte passieren sollen und dürfen. Als dann ihr Kind geboren war, bestätigte Josefs Tod in den Augen der Leute rückblickend nur ihre Schuld. So verhielten sie sich auch mehrheitlich zu ihr. Nicht alle, aber die meisten. Dazu kam, dass das Kind nicht ganz normal war, gar nicht sein konnte. Das war so ein Narr in Gott, er war lieb, hat aber nur mit Müh und Not sprechen gelernt. Wen wundert’s, wenn seine Mutter nach all dem wie taubstumm war und wahrscheinlich auch halbverrückt. Außerdem sah er schon auf den ersten Blick auffällig anders aus, er hatte nämlich blondes, fast weißes Haar.
Kurz gesagt, Unglück, Armut und Verderben, soweit ich mich erinnere. Mehr weiß ich wirklich nicht. Ich weiß nicht, was weiter war, ich habe nicht nachgeforscht. Ich habe sie aus den Augen verloren und war ehrlich gesagt froh darüber.“
„Damit endete Ihr Buch aber nicht.“
„Nein, im Gegenteil. Die Geschichte mit den Soldaten war nur der Prolog zum Leben Jesu. Ich habe über den Unglücksraben geschrieben, den gutmütigen und verwirrten, der durch die Gegend zieht, ständig gefolgt von seiner armseligen jungen Mutter und einem Schwarm unwissender, lachender Kinder, auf die Barmherzigkeit der Menschen angewiesen. Der Ärmste der Armen, der Erbärmlichste der Erbärmlichen, und trotzdem glücklich, er geht umher und trägt seine verwirrten Prophezeiungen vor, seine „Predigten“. Und obwohl er wohl der Letzte ist, den Religion oder gar Politik interessieren würden, denn die reale Welt um sich herum nimmt er gar nicht wahr, wird er doch zum Opfer einer tragischen Situation. Eines von vielen natürlich. Für seine größenwahnsinnigen Aussprüche, was nur ein Vorwand ist, versteht sich, wird er von römischen Soldaten verhaftet und schließlich gekreuzigt. In seinem Fall geschieht es nur, damit ein paar Rüpel ein bisschen Spaß haben. Genauso, wie es mit seiner Zeugung war. Verstehst du?
Am Schluss habe ich angedeutet, dass zwischen denen, die die Hinrichtung vollstrecken, auch die beiden wieder auftauchen, also auch sein Vater. Das habe ich natürlich so geschrieben, dass es wahrscheinlich klingt. Mein Jesus stirbt nicht über dreißig Jahre alt, sondern wirklich jung, kaum siebzehn. So jung, wie seine Mutter war, als alles begann. Also so ein Kreis.“
„Aber diese Szene, als Jesus am Kreuz stirbt, ich meine, als er ruft: ‚Herr, warum hast du mich verlassen?’, Finsternis über das Land kommt und der Vorhang im Tempel in zwei Stücke zerreißt, die ist doch von Ihnen, nicht? Die war doch in Ihrem Buch, oder nicht?“
„Ja, das war sie.“
„Wie war das gemeint? Hat Gott Jesus verlassen, oder hat er ihn nicht verlassen?“
„Natürlich hat er ihn nicht verlassen, auch wenn das so aussehen mag.“
„Das ist eine schöne, wunderbare Szene. Meine Lieblingsstelle. Nie habe ich etwas Eindringlicheres gelesen, und ich glaube, nie wird jemand etwas Eindringlicheres schreiben. Die reine Poesie.“
„Poesie? Was ist das überhaupt für ein schändliches Wort? Sag mal, hast schon jemals eine Kreuzigung gesehen? Hast du einen ans Kreuz genagelten Menschen sehen?“
„Na klar, das hat doch jeder gesehen. Die ganzen Anhöhen sind voll davon.“
„Ja, aber ich meine von nahem. Hast du jemals einen Menschen auf diese Art sterben gesehen?“
„Nein, das nicht.“
„Und du sagst Poesie.“
Der Alte wurde schweigsam.
„Ich habe mich schlecht ausgedrückt, so habe ich es nicht gemeint“, flüsterte Ezechiel verlegen.
„Nicht so gemeint, nicht so gemeint... das sagst du immer. Überlegst du dir überhaupt je mal etwas?“
„Verzeihung, seien Sie mir nicht böse. Ich wollte nur sagen, dass ich Sie bewundere, dass ich auch einmal so schreiben können möchte wie Sie. Wissen Sie, ich habe ein paar neue Gedichte geschrieben, darf ich sie mal mitbringen und Ihnen vorlesen?“
„Meinetwegen. Wenn du meinst, dass meine Worte dir nützlich sein können, bring sie her. Ich schaue sie mir gerne an.“
„Auf die Gedichte kommt es eigentlich nicht so an, aber einmal... Ich weiß nicht, ob ich davon sprechen darf, ich möchte Sie nicht wieder erzürnen.“
„Sprich nur.“
„Einmal möchte ich versuchen, diese Geschichte von neuem zu schreiben.“
„Die ist doch schon geschrieben, auch wenn sie vielleicht verloren gegangen ist. Und viel Großes habe ich damit nicht vollbracht, wie du siehst.“
„Bloß, wissen Sie, Ich möchte sie so aufschreiben, wie die Menschen sie erzählen, wie sie die Runde macht, aber...“
„Das meinst du doch nicht ernst!“
„Besser, natürlich viel besser! Ihre Geschichte war schön, perfekt... aber vielleicht zu – zu hoffnungslos. Wissen Sie, wie ich meine? Und Hoffnungslosigkeit ist überall um uns herum, dass man es kaum aushält. Die Menschen brauchen ein bisschen Trost, und darum haben sie die Geschichte so verändert.“
„Zur Unkenntlichkeit!“
„Ich weiß, es ist ungelenk, aber der Einfall, der Einfall ist ausgezeichnet.“
„Mit Jesus als echtem Prophet und Gottessohn? Sogar als Messias? Mit all den Jüngern, mit dem Unverständnis der Juden und ihrem Anteil an seinem Tod? Mit der Himmelfahrt? So willst du es schreiben?“
„Genau so. Und noch viel mehr. Das wird ein gutes Buch, sie werden sehen.“
„Das ist Wahnsinn, aber vor allem ist es schreckliche Blasphemie, ein Hohn... Wie wenn du Gott direkt ins Gesicht spucktest. Begreifst du das nicht?“
„Aber nein, seien Sie mir nicht böse, da haben sie mich nicht verstanden. Ich will nicht lästern. Was hat das mit der Wirklichkeit zu tun? Solche Dinge kann man nicht vermischen! Das ist doch nur Literatur – oder wird es genauer gesagt noch.“
„Täusch dich nicht. In diesem Land ist alles möglich. Gerade jetzt.“
„Und wenn es schließlich doch jemand glaubte, kann es für einen Schriftsteller etwas Besseres geben?“
„Weißt du, Ezechiel, du bist ja eigentlich so etwas wie mein Schüler, mein einziger Schüler und vielleicht auch Freund. Ich bin ein alter, mürrischer Mann, aber dich mag ich. Ich will dich nicht nur immer schelten, ich weiß, dass du klug bist, Talent hast... aber das, was du da sagst, ist wohl nur mit deiner Jugend zu entschuldigen. In deinem Alter ist der Mensch sich selbst eine ganze Welt, das kommt oft vor, und wer kann sagen, was weiter wird? Alles kann ganz anders herauskommen. An unserem Wollen liegt es auch nicht so sehr, aber ich habe doch gehofft, dass du mehr verstehst.“
„Etwas habe ich bestimmt verstanden.“
„Was denn?“
„Ich muss meinen Namen ändern. Und ich werde es auch tun.“
„Den Namen ändern?“
„Ja, den Namen ändern. Ezechiel ist kein guter Name für einen Schriftsteller, das könnte meine ganze Geschichte runterziehen, das möchte ich nicht. Ich werde einen anderen finden, einen kürzeren und hübscheren, damit ihn sich alle schnell merken können.“
„Denkst du, es kommt so sehr auf den Namen an?“
„Ja, das denke ich. Früher vielleicht nicht, aber heute schon. So sind eben die Zeiten.“
„Du machst dich also daran, einen fremden Namen und eine fremde Geschichte zu verwenden...“
„Ich werde es so gut machen, dass beides ein für allemal meines bleibt. Andere Namen werden im Zusammenhang mit diesem Buch niemand mehr einfallen. Sie werden sehen.“
„Ich kaum noch.“
„Ich weiß, dass Sie nicht einverstanden sind, aber ich möchte es für Sie tun, und ihretwegen.“
„Ich bin müde, sei mir nicht böse, ich möchte mich schlafen legen. Komm, ich begleite dich wenigstens noch ein paar Schritte.“
„Ich gehe schon, selbstverständlich, entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange aufgehalten habe. Darf ich nur noch etwas fragen?“
„Du hast mich die ganze Nacht gefragt, aber sag.“
„Sagen Sie, fühlen Sie sich immer noch schuldig?“
„Sicherlich. Aber welcher Jude fühlt sich nicht schuldig? Und welcher Mensch ist es nicht tatsächlich ?“
„Sehen Sie. Mein Jesus kommt mit offenen Armen, um uns von dieser Schuld zu befreien. Es genügt, die Hand auszustrecken, und alles wird gut, oder wenigstens besser. Ist darin nicht eine große Hoffnung?“
„Ich sehe eher eine weitere Gefahr darin.“
„Aber wieso?“
„Nächstes Mal, Ezechiel, ich möchte jetzt schlafen.“
„Also gute Nacht.“
„Ezechiel, warte noch! ‚Warum ist diese Nacht anders als die anderen Nächte?’ Hast du das heute bei euch zuhause gesagt?“
„Nein, nicht mehr. Mein Bruder hat gefragt, ich bin nicht mehr der Jüngste.“
„Macht nichts. Warum ist diese Nacht anders als die anderen Nächte?“
„Wegen gar nichts. Sie ist genauso hoffnungslos und grausam wie alle vergangenen und wohl auch alle kommenden.“
„In jeder Generation stehen sie gegen uns auf, um uns zu vernichten, aber... Du weißt ja, wie es weitergeht.“
„Diese Geschichte ist schon viel zu alt. Ich werde eine neue schreiben.“
„Auch die wird einmal viel zu alt wirken, daran liegt es nicht.“
„Woran liegt es dann?“
„Es ist spät, ich gehe schlafen. Warum ist diese Nacht anders als die anderen Nächte, Ezechiel?“ Und der Alte wusste es plötzlich viel genauer als vor ein paar Stunden, als er vor die Schwelle seines Hauses getreten war.

 

 


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